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Massenstreiks gegen Lohnverlust
Zehntausende Beschäftigte haben in Großbritannien die Arbeit niedergelegt. Eisenbahner ebenso wie Call-Center-Angestellte und Uni-Dozenten
Am Dienstagmorgen meldete der britische Ölkonzern BP, dass er im zweiten Quartal dieses Jahres einen Gewinn von fast sieben Milliarden Pfund (8,3 Milliarden Euro) gemacht hat; es ist der höchste Profit seit 14 Jahren. Wenig später berichtete das Forschungsinstitut National Institute of Economic and Social Research, dass die Inflation in Großbritannien noch vor Jahresende elf Prozent erreichen werde – nächstes Jahr werde die Teuerung in »astronomische Höhen« klettern. Millionen der ärmsten Haushalte werden davon am stärksten getroffen werden, schreibt das Institut. Dies ist der Hintergrund, vor dem die derzeitige Streikwelle in Großbritannien zu verstehen ist: Exorbitante Profite auf der einen Seite, eine tiefe und sich verschlimmernde soziale Krise auf der anderen.
In diesem Sommer dürfte es die größte Streikbewegung seit Jahrzehnten geben. In den vergangenen Monaten haben 40 000 Eisenbahner von der Gewerkschaft RMT die Schienen im ganzen Land mehrere Tage lang lahmgelegt, zwei weitere Gewerkschaften wollen sich nun den Streiks anschließen. Zudem sind Postbeamte, Strafverteidiger und Unidozenten in den Ausstand getreten. Letzte Woche haben die Call-Center-Angestellten vom Telekom-Konzern BT zum ersten Mal überhaupt die Arbeit niedergelegt. In mehreren Regionen und Städten sind weitere kleinere Konflikte im Gang. Auch Ärzte, Hebammen, Lehrer und andere Angestellte im öffentlichen Sektor haben Streikabstimmungen in Aussicht gestellt.
Es ist vor allem die Lohnfrage, die die Streikwelle antreibt. Die rapide steigenden Preise für Lebensmittel, Energie und Treibstoff – die Inflation liegt derzeit bei über neun Prozent – strapazieren die Geldbörsen der Briten von Woche zu Woche mehr, aber ihre Einkommen hinken weit hinterher. Laut der nationalen Statistikbehörde sind die Reallöhne im Frühjahr im Durchschnitt um 2,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gefallen – noch nie seit es Messungen gibt, sind die Einkommen so stark eingebrochen. Das alles folgt auf mehr als ein Jahrzehnt stagnierender Löhne.
Gleichzeitig schreiben große Konzerne dicke Profite. Die Gewerkschaft Unite hat errechnet, dass die Gewinne der größten aktiennotierten Unternehmen seit 2019 um über 70 Prozent gestiegen sind. Insbesondere Energiekonzerne schwimmen derzeit in Geld: Centrica, das Mutterunternehmen des Energieanbieters British Gas, meldete einen Profit von 1,3 Milliarden Pfund in den ersten sechs Monaten 2022; im letzten Jahr waren es noch 262 Millionen Pfund. »Diese horrenden Profite sind eine Beleidigung für die Millionen von Erwerbstätigen, denen steigende Stromrechnungen zu schaffen machen«, sagte Frances O’Grady, Generalsekretärin des Gewerkschaftsdachverbands TUC. Ökonomen verweisen zudem darauf, dass die Inflation unter anderem von genau diesen Profiten angetrieben wird – und nicht von den Lohnforderungen der Arbeitstätigen.
Viele Britinnen und Briten stehen denn auch hinter der wachsenden Streikbewegung. Ende Juni, als der Eisenbahnerstreik in vollem Gang war, ergab eine Umfrage, dass 45 Prozent der Befragten die Gewerkschafter unterstützen, demgegenüber waren 37 Prozent gegen den Streik. Letzte Woche, als zehntausende RMT-Angestellte erneut einen Tag lang die Arbeit niederlegten, sah man erneut solide Unterstützung an den Streikposten. »Es ist eigentlich recht überraschend«, sagte eine BBC-Reporterin, die aus der englischen Stadt Leicester über den Bahnstreik berichtete. »Obwohl viele Leute frustriert sind, weil sie nicht reisen konnten, habe ich keine einzige Person getroffen, die den Streik verurteilt hat.«
Dennoch scheint die britische Regierung zu einer Konfrontation mit der Arbeiterbewegung entschlossen. Liz Truss, die aussichtsreichste Kandidatin für die Nachfolge von Boris Johnson, griff tief in die Kiste der uralten Tory-Slogans, als sie letzte Woche klagte: »Die militanten Gewerkschaften nehmen die Öffentlichkeit in Geiselhaft.« Truss hat bereits ein neues Gesetz angekündigt, das in wichtigen Sektoren, etwa dem Transportwesen, die Beibehaltung eines minimalen Betriebs vorschreiben würde – Streik hin oder her. Das würde die Wirkung von Ausständen enorm verringern und Gewerkschaften massiv schwächen.
Mick Lynch, der wortgewandte Generalsekretär der RMT, sprach vom »größten Angriff auf die Bürgerrechte seit der Legalisierung von Gewerkschaften im Jahr 1871.« Aber die Arbeiterbewegung hat überhaupt nicht vor, klein beizugeben. Lynch hat bereits mit einem Generalstreik gedroht, falls das Anti-Streik-Gesetz tatsächlich vorgelegt würde. Es wäre der erste seit fast hundert Jahren: 1926 traten die britischen Lohnabhängigen zum ersten und bislang letzten Mal in den Generalstreik, Auslöser waren niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen der Bergarbeiter – er endete mit einer Niederlage für die Gewerkschaften.
Dass viele Lohnabhängigen in Großbritannien zu einer solchen Eskalation bereit wären, daran gibt es wenig Zweifel. Zumal sich bereits gezeigt hat, dass Arbeitsniederlegungen durchaus wirkungsvoll sein können, auch die Ankündigung: Die Angestellten von British Airways im Flughafen Heathrow etwa sagten im Juli einen geplanten Streik ab, nachdem das Unternehmen ihren Lohnforderungen weitgehend stattgegeben hatte.
Auch anderweitig zeigen sich Briten bereit zu zivilem Ungehorsam: Die Kampagne »Don’t Pay« hat sich zum Ziel gesetzt, mindestens eine Million Menschen dazu zu bringen, ab 1. Oktober schlicht keine Energierechnungen mehr zu bezahlen, aus Protest gegen die exorbitanten Kosten. Es ist ein Verbraucherstreik nach dem Vorbild der Kampagne gegen die Kopfsteuer im Jahr 1990, die sogenannte Poll Tax. Bislang haben sich bereits 75 000 Leute der »Don’t Pay«-Bewegung angeschlossen. In den kommenden Wochen könnten es deutlich mehr werden – die Kampagne scheint derzeit Wind in den Segeln zu haben. Ein Blick in die Geschichte dürfte die Teilnehmer optimistisch stimmen: Der Widerstand gegen die Poll Tax vor 30 Jahren führte nicht nur dazu, dass die Steuer am Ende verworfen wurde – die Kampagne leistete zudem einen entscheidenden Beitrag zum Sturz von Premierministerin Margaret Thatcher.
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