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Kapitalismus, Krise, Ketten sprengen!
Die Logistik ist für die Macht des Kapitals entscheidend
Das Frachtschiff »Evergiven«, das den Suez-Kanal versperrt, und ein Schiffsstau, der von Shanghai in die deutsche Nordseebucht wandert: der Bereich der Logistik rückt immer nur dann ins gesellschaftliche Bewusstsein, wenn der planmäßige Ablauf misslingt. Die gegenwärtigen Verzögerungen und Lieferketten-Engpässe fördern zu Tage, wie sehr der Kapitalismus auf den reibungslosen Betrieb logistischer Netzwerke angewiesen ist.
Der deutsche Industrieverband verkündete jüngst, die Lieferketten seien »zum Zerreißen gespannt«, die Springer Presse warnte angesichts der Streiks in deutschen Seehäfen vor dem »Super-GAU« für den deutschen Standort. Aktivisten*innen der italienischen Basisgewerkschaften USB und SI Cobas wird aktuell die Gründung einer kriminellen Vereinigung und Erpressung vorgeworfen, weil sie effektive Streiks im Logistik-Sektor organisiert hatten. Die Beispiele zeigen: Die Logistik ist für die Macht des Kapitals entscheidend. Für sie wurden aus den Meeren Schifffahrtsrouten und aus Landschaften Verkehrsnetze gemacht; wo kein Weg ist, wird einer gebaut. So entstanden Panama-, Suez- und Mittellandkanal. Mit den Worten des marxistischen Philosophen Søren Mau: »Die Logistik und ihre Infrastruktur sind im Wesentlichen Methoden, um die Logik des Kapitals in die Erdkruste einzugravieren.« Linke Theorie beschäftigt sich schon seit einigen Jahren intensiver mit der Logistik, angesichts der eskalierenden Klimakrise stellt sich allerdings auch die Frage nach einer radikalen politischen Praxis immer drängender.
Erfolgsgeschichte Unternehmenslogistik
Kurzer Rückblick: Die Logistik wanderte in den 1950er Jahren aus dem militärischen Bereich in die Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaften. Das Ziel der Unternehmenslogistik ist es, in einem ständigen Prozess aus Automatisierung und Standardisierung jeglichen Warenumschlag produktiv zu machen. Ein Meilenstein in diesem Prozess der Standardisierung von Warentausch war der stapelbare Container; er wurde 1956 von einem US-amerikanischen Spediteur als technische Innovation präsentiert und angesichts der krisenhaften Versorgung des US-Militärs in Vietnam zum ersten Mal massenhaft eingesetzt. Diese Containerisierung führte zur Synchronisation des Gütertransports im internationalen Handel.
Schiffskörper, Güterwagons und LKW folgen heute gleichermaßen dem Format des Containers. Das spart Zeit- und Reibungsverluste, Rohstoffe und Waren können immer schneller von A nach B transportiert werden. Was früher mühsam und zeitintensiv als Stückgut in Säcken und Kisten einzeln umgeschlagen wurde, bleibt jetzt bis zum finalen Zielort einfach im Container. Diese Standardisierung sparte massiv Arbeitskräfte im Umschlag ein, inzwischen laufen einige Docks vollautomatisiert. Die Containerisierung vereinheitlichte jedoch nicht nur den Warentransport an sich, sie machte auch ortsgebundene Zwischenlagerung obsolet.
Diese »logistische Revolution« betraf aber nicht nur den Warentransport, sondern veränderte die kapitalistischen Produktionsverhältnisse grundlegend. Teilte sich Warenmobilität vorher sektioniert und linearisiert in Rohstoffgewinnung, Transport zur Produktionsstätte, Produktion, Transport zum Absatz und Verkauf, ist es heute die Logistik, die produzierende, verteilende und verkaufende Netzwerke organisiert. Sie forciert damit die Fragmentierung der Produktion über die ganze Erdkugel, die einzelnen Produktionsschritte sind längst räumlich und organisatorisch zerlegt und flexibel verkettet. Alles wird dort verrichtet, wo es gerade am profitabelsten ist, maßgebliche Kriterien für die Ortswahl sind Lohnstückkosten und staatliche Begünstigungen. Mit der Einführung der Just-in-Time-Produktion beim japanischen Automobilhersteller Toyota wurde erstmals eine vollumfängliche Harmonisierung dieser Fragmentierung angestrebt. Inzwischen ist dieses Prinzip zum weltweiten Paradigma geworden.
Stoffwechsel mit der Natur
Jeder Fortschritt und jede Produktivitätssteigerung in den kapitalistischen Zentren haben ihr notwendiges Gegenstück in der Überausbeutung von Menschen und Natur in der Peripherie. Möchten wir diese kapitalistischen Naturverhältnisse verstehen, führt kein Weg an der Logistik vorbei. Nicht nur, weil ihre Transportmittel dank Schweröl und Diesel für einen großen Teil der Emissionen verantwortlich sind, sondern auch, weil sie das Anheizen der Klimakrise überhaupt erst ermöglicht. Sie ist die Lebensader der kapitalistischen Naturzerstörung.
Am Anfang einer jeden Wertschöpfungskette steht die Rohstoffgewinnung. Diese findet bekanntermaßen zu weiten Teilen abseits deutscher Landschaften statt. Denn das hiesige Kapital hat weltweit einen scheinbar unbegrenzten Zugriff auf sogenannte Bodenschätze, die es per Logistik entsprechend seines kontinuierlich steigenden Energiebedarfs in Bewegung setzt. Dadurch werden die Produktionsstandorte weitgehend unabhängig von (möglicherweise unzureichenden) Rohstoffvorkommnissen im eigenen Vorgarten, zudem lassen sich Umweltauflagen umgehen und unmittelbare Umweltfolgen externalisieren. Ein Beispiel: Das umweltschädliche »Fracking« ist in Deutschland zwar verboten, das so geförderte Gas kann jedoch aus den USA importiert werden.
Fossile Energien sind für den Kapitalismus aller Bekenntnisse zum »Naturschutz« zum Trotz weiterhin von Vorteil, etwa in Hinblick auf Mobilität, Flexibilität und zeitunabhängiger Speicherung. Aber ohnehin werden auch für die neuen, angeblich grünen Technologien Rohstoffe benötigt. Hier ergibt sich nun die nächste Phase des Extraktivismus. Die für Smartphones und Auto-Batterien so dringend gebrauchten Erz- und Mineralvorkommen sind nicht nur selten, sondern auch an konkrete Orte gebunden – und damit an spezifische politische, ökonomische, soziale, rechtliche und geologische Bedingungen. Diese Schranken überwindet die Logistik fürs Kapital, während die schädlichen Folgen der Rohstofferlangung wie Verschmutzung, Wasserknappheit und Vertreibung von Indigenen an Ort und Stelle entstehen.
Angesichts der globalen Lieferketten von »Made-in-Germany«-Produkten und Konsumgütern in den Kaufhausregalen entpuppt sich jede nationale Messung von Emissionen als reine Farce. In einem SUV, der in Wolfsburg vom Band läuft, sind tausende klimaschädliche Vorprodukte verbaut. Und wenn dieses Auto dann etwa in China gefahren wird, fallen die Emissionen im Absatzland, die Profite aber im Konzernsitz an. Auf dieser Grundlage ist es unsinnig, einzelne Nationalökonomien auf ein 1,5-Grad-Ziel einzuschwören.
Waffe in der Standortkonkurrenz
Der Ausbau von logistischer Infrastruktur gehört, die obigen Ausführungen legen es nahe, zu den wesentlichen Aufgaben eines jeden Nationalstaats. Dahinter steht das Ansinnen, der Gesamtheit des heimischen Kapitals die besten Verwertungsbedingungen zu schaffen; dem Vorteil in der nationalen Standortkonkurrenz dient noch jeder Flughafen- und Autobahnausbau. Rohstoffreiche Regionen im globalen Süden werden im Namen des globalen Wettbewerbs in enorme Abhängigkeiten gezwungen, deren Ausgangsbedingungen maßgeblich der europäische Kolonialismus festlegte. So hatten die heute postkolonialen Staaten nie die Möglichkeit, eine eigene kapitalistische Produktion aufzubauen, die auch konkurrenzfähig ist. Deswegen bleibt ihnen für die Teilnahme am Weltmarkt nach wie vor zumeist nur der Export von Rohstoffen – während der Großteil der Profite, die mit diesen gemacht werden, erst nach ihrer Weiterverarbeitung in den Industriestaaten anfällt. Ein Beispiel: Die Exporte der gesamten afrikanischen Staaten in die EU bestehen zu 65 Prozent aus sogenannten Primärgütern wie Rohstoffen, während die EU zu 68 Prozent verarbeitete Güter auf dem afrikanischen Kontinent verkauft.
Gleichwohl bestehen Abhängigkeiten natürlich auch umgekehrt, und um diesen nicht zu erliegen, bemüht sich das Herrschaftspersonal der westlichen Staaten um vertragliche Garantien, darunter repressive Handelsabkommen und Deals mit Diktaturen. Je effizienter die logistischen Mittel, desto besser lassen sich diese Bedingungen bestimmen. Die reichen Industriestaaten exekutieren die Ordnung der warenförmigen Mobilität, deren Brutalität an Orten wie Calais besonders augenscheinlich wird: Während tausende Lkw täglich die wenigen Kilometer Tunnel nach Großbritannien passieren, ertrinken Migrant*innen beim Versuch, denselben Weg zu bewältigen.
Kommunistische Gegenmacht
Die Kapitalseite führte mithilfe der Logistik bislang eine erfolgreiche Offensive gegen die organisierte Arbeiter*innenschaft. Die globale Fragmentierung der Produktion scheint jede proletarische Gegenmacht zerschlagen zu haben. Während sich Kernbelegschaften meist zu Komplizen mit den Unternehmen gemacht haben, hat die globalisierungskritische Bewegung keine Druckmittel entwickeln können, sondern nur – mal mehr mal weniger kompromisslos – an den Zäunen internationaler Gipfeltreffen gerüttelt. Auch die hiesige Klimagerechtigkeitsbewegung steht der ungebrochen fortgesetzten, intensivierten Naturzerstörung bisher recht hilflos gegenüber.
Dennoch sollte die Logistik zukünftig Schauplatz radikaler klimapolitischer Praxis werden. Durch ihre minutiöse Taktung ist die logistische Organisation ebenso fragil wie effektiv, und gerade diese Eigenschaft macht sie zu einem geeigneten Instrument für antikapitalistische Kämpfe und Klimagerechtigkeit. Bisher waren solche Störungen oft eher Begleiteffekte von sozialen Kämpfen, die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung, der Gelbwesten und der Demokratiebewegung in Hongkong etwa rissen durch die Besetzung wichtiger Verkehrswege Löcher in Lieferketten. Aber es gab auch bereits gezielte Blockaden logistischer Infrastruktur, zum Beispiel die Hafenblockade von Occupy Oakland 2011 oder des linken Bündnisses »…um‹s Ganze!« beim G7-Treffen 2017 in Hamburg.
Logistische Knotenpunkte wie der Hamburger Hafen sind ein Flaschenhals der globalen Just-in-Time-Produktion. Logistik findet in aller Öffentlichkeit, im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße statt und kann deswegen auch dort unterbrochen werden. Der Akt der Blockade ist zwar (bezeichnenderweise) ein arbeitsrechtlich verbotenes Kampfmittel, aber wenn sie von arbeitsrechtlich Ungebundenen vorgenommen wird, kann ihr eine neue Bedeutung zukommen. Und ohnehin halten wir Diskussionen darüber, wer Logistik blockieren darf, gar nicht für zielführend in einer Welt, in der unsere natürliche Lebensgrundlage Tag für Tag weiter zerstört wird. Emanzipative Kämpfe sollten die Logistik gemeinsam und transnational zu einem Feld machen, auf dem kollektive Aneignungsprozesse und der Aufbau von Gegenmacht begonnen werden können.
Die Gruppe TOP B3rlin besteht seit 2006 und versteht sich als kommunistisches Projekt gegen alles Böse. Die Gruppe ist Teil des Bündnisses »… ums Ganze!«, das im Rahmen der »System Change-Aktionstage« (9.-15. August 2022) zur Blockade im Hamburger Hafen aufruft. Weitere Informationen: www.umsganze.org
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