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»Die Taliban testen die Reaktion«

Nicolette Waldman über den Amnesty-Bericht zur Lage von Frauen und Mädchen in Afghanistan

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie haben am Bericht »Tod in Zeitlupe: Frauen und Mädchen unter der Herrschaft der Taliban« mitgearbeitet. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Die Taliban haben Frauen und Mädchen systematisch diskriminiert und ihnen dann das Recht genommen, ein sicheres, freies und erfülltes Leben zu führen. Einige der bemerkenswertesten Ergebnisse beziehen sich auf die Frauen, die gegen diese Diskriminierung protestierten. Wir haben mit zwölf Frauen gesprochen, die an Protesten beteiligt waren, fünf von ihnen wurden inhaftiert. Im Gespräch erfuhren wir, dass sie während der Proteste Misshandlungen und Schlägen ausgesetzt waren, chemischen Sprays und Tränengas. Einige sagten uns, dass die Taliban Ladenbesitzer bitten würden, Glasscherben auf der Straße zu verteilen, wo immer sie protestieren, damit sie nicht sicher herumlaufen oder sich hinsetzen könnten. Andere erzählten, dass die Taliban begonnen haben, sie auf die Brust und zwischen die Beine zu schlagen, nachdem Fotos von einer Demonstrantin in den sozialen Medien gepostet worden waren, der auf den Kopf geschlagen worden war. So können sie ihre Verletzungen öffentlich oder Familienangehörigen nicht zeigen.

Interview

Nicolette Waldman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Krisenreaktionsprogramm von Amnesty International. Zuvor forschte sie zu Syrien und dem Irak und war Mitarbeiterin der Afghanistan Independent Human Rights Commission. Sie hat einen Abschluss in Rechtswissenschaften von der Harvard Law School. Über den Amnesty-bericht »Death in Slow Motion: Women and Girls Under Taliban Rule« sprach mit ihr Cyrus Salimi-Asl.

Wie wirkt sich der Moralkodex der Taliban auf das Leben der Afghaninnen aus?

Es gab eine Welle von Verhaftungen von Frauen und Mädchen, die in das verwickelt wurden, was die Taliban als moralische Korruption bezeichnen. Normalerweise bedeutet dies, dass diese Frauen ohne männliche Aufsichtsperson (mahram) in der Öffentlichkeit aufgetreten waren oder mit einer Person, die nicht als »mahram« qualifiziert war. Sie können unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten, gefoltert und dann lebenslang stigmatisiert werden, nur weil sie allein in Geschäfte gegangen sind. Wir haben auch festgestellt, dass die Rate der Früh- und Zwangsheiraten drastisch gestiegen ist. Die kausalen Faktoren können zurückgeführt werden auf das, was die Taliban tun, insbesondere die Schließung von weiterführenden Schulen und die begrenzten Karrieremöglichkeiten für Frauen. Hier haben wir einen direkten Zusammenhang mit den Zwangsverheiratungen von Frauen und Mädchen festgestellt.

Wie sind Sie vorgegangen, um diese Informationen aus erster Hand zu erhalten?

Zwischen September 2021 und Juni 2022 haben wir mit 100 Frauen und Mädchen in 20 der 34 Provinzen gesprochen und versucht, ein breites Spektrum in Bezug auf Alter, Klasse, ethnische Zugehörigkeit, Stadt und Land abzubilden. Die Emotionen der Befragten waren gemischt, von Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit, bis zu großer Wut, Trotz und Resilienz. Aber es gibt Hoffnung: Wenn die internationale Gemeinschaft sich hinter diese Frauen und Mädchen stellen würde, sind sie es, die den Widerstand gegen die Taliban anführen werden. Wir haben auch Informationen eingeholt von Mitarbeitern in Haftanstalten für Frauen und Mädchen, mit 22 Mitarbeitern internationaler NGOs und nationaler NGOs sowie UN-Agenturen gesprochen. Diese Interviews wurden telefonisch und persönlich im März 2022 in Afghanistan durchgeführt.

Wie waren Ihre Eindrücke vor Ort?

Man findet viele Nuancen im Verhalten der Frauen und Mädchen. Einige finden, dass die Regeln und Einschränkungen so vage sind und sich so schnell ändern, dass sie ihre Häuser überhaupt nicht verlassen; andere Frauen gehen weiter raus. Frauen und Mädchen sagten uns auch, dass Nachbarn oder Gemeindeoberste in einigen Fällen die frauenfeindliche Politik der Taliban nutzen, um ihren Raum immer weiter einzuschränken.

Was waren die größten Hindernisse, um an die Informationen zu kommen?

Die Frauen sagten uns, dass sie aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen keine Beiträge in den sozialen Medien veröffentlichen konnten. Eine Frau hatte einige Beiträge auf Facebook veröffentlicht, wie sich die Geschlechtertrennung auf ihre Universitätsausbildung auswirkte. Ihre Lehrerin habe die Studentin aufgefordert, diese Posts zu löschen, nachdem die Taliban die Lehrer deswegen kontaktiert hatten. Es herrscht das Gefühl, dass jeder Schritt, sich zu äußern, auf Vergeltungsmaßnahmen gegen sie oder ihre ganze Familie stoßen könnte. Wir haben die Frauen über vertrauenswürdige Kontakte erreicht und im Laufe der Zeit Vertrauen aufgebaut.

Wie erklären Sie die Beteuerungen der Taliban, dass sie die Rechte von Frauen respektieren wollen? War das nur Propaganda?

Ihre Frauenpolitik ist ein bewegliches Ziel und entwickelt sich ständig weiter, was darauf schließen lässt, dass sie die Reaktion der internationalen Gemeinschaft testen, um zu sehen, wie diese reagiert. Intern gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Frauen und Mädchen behandelt werden sollten. Und bis jetzt gibt ihnen die internationale Gemeinschaft die Botschaft mit, dass sie ohne eine starke, koordinierte Reaktion sehr weit gehen können. Deshalb drängen wir die internationale Gemeinschaft dazu, zusammenzuarbeiten und Signale auszusenden, dass die derzeitige Behandlung der Hälfte ihrer Bevölkerung Konsequenzen hat. Nach unserer Ansicht wären Reiseverbote und gezielte Sanktion eine wirksame Botschaft, wenn diese Maßnahmen durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates verhängt würden.

Sie glauben also, dass es im inneren Kreis der Taliban eine Art Machtkampf gibt?

Das müssen wir noch besser verstehen. Wir saßen mit hochrangigen Beamten in Kabul zusammen, die uns sagten: Ja, Mädchen im Teenageralter sollten zur Schule gehen. Ja, Frauen sollten arbeiten. Ich glaube nicht, dass das nur Lippenbekenntnisse waren, sondern denke wirklich, dass es diese Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Haltungen unter den Taliban gibt. Es ist wichtig, sie zu verstehen und dann zu versuchen, effektive Wege zu finden, sie zu beeinflussen.

Ist wirklich alles verloren gegangen, was in den letzten 20 Jahren in Afghanistan erreicht wurde?

Absolut nicht. Ich habe gerade bei dieser Recherche erkannt, wie tief und breit der Kampf für Frauenrechte im ganzen Land war. Wir haben mit Frauen gesprochen, die im Ministerium für Frauenangelegenheiten in verschiedenen Provinzen Afghanistans gearbeitet haben, und die hatten mit dem landesweiten Unterstützungssystem für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt zu tun. Viele Frauen in ganz Afghanistan haben diesen Schutz genutzt, um fair behandelt zu werden. Sie haben 20 Jahre dafür gearbeitet und werden weiter kämpfen. Daher glaube ich auf keinen Fall, dass alles verloren ist. Stattdessen ist es so, dass wir uns gerade in einer neuen Phase des Kampfes für Frauenrechte in Afghanistan befinden, in der sie mit allen Formen von Repressalien konfrontiert sind. Wir müssen jetzt sicherstellen, dass diese 20 Jahre nicht verloren gehen.

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