Schwarzer Widerstand

In selbstverwalteten Siedlungen kämpfen Afrobrasilianer für den Fortbestand ihrer Kultur, denn ihre sozialen Bewegungen sind bedroht.

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 7 Min.

Anacleta Pires ist eine Art Chronistin der Quilombo-Bewegung.
Anacleta Pires ist eine Art Chronistin der Quilombo-Bewegung.

Die Narben», sagt Anacleta Pires und stockt kurz. Dann klopft sie sanft auf ihren Arm. «Die Narben werden von Generation zu Generation weitergeben. Doch der Schmerz treibt uns an.» Pires sitzt im Hof ihres Hauses. Hühner gackern, Katzen dösen im Schatten. Pires, Mitte 50, kurze Locken, rotes Kleid, ist Aktivistin und Bewohnerin der Quilombo Santa Rosa dos Pretos. Es ist eine von zahlreichen selbstverwalteten Siedlungen schwarzer Brasilianer*innen im nordöstlichen Bundesstaat Maranhão. Pires ist eine lebhafte Frau, eine begnadete Erzählerin und so etwas wie eine Chronistin der Quilombo-Bewegung. Weit holt sie aus, wenn sie über dieses häufig vergessene Kapitel der brasilianischen Geschichte spricht.

Während der Kolonialzeit wurden Quilombos als Territorien gegründet, in denen sich geflohene Sklav*innen niederließen und ihre Kultur bewahren konnten. Legendär ist der Widerstand von Zumbi dos Palmares. Der Sohn afrikanischer Sklav*innen führte die Quilombo Palmares im Nordosten Brasiliens an. Mehrfach wehrte er Angriffe der Kolonialarmee ab, bis er im Jahr 1695 hingerichtet wurde. Bis heute gibt es Quilombos in ganz Brasilien. Bis heute sind sie ein Synonym für den schwarzen Widerstand. Und bis heute müssen sie sich gegen Angriffe von Großgrundbesitzern und der Regierung zur Wehr setzen.

Ins koloniale Brasilien verschleppt

Die Quilombo Santa Rosa dos Pretos liegt rund zwei Busstunden von der Landeshauptstadt São Luís entfernt, direkt an der Bundesstraße. Am Straßenrand stehen einige bunt bemalte Häuser, hinter kleinen Obstständen sitzen ältere Frauen, im Schatten eines Baumes flechten sich ein paar Mädchen die Haare. Genau vor dem Kilometerschild 88 steht ein knallblaues Haus. Es ist Pires’ Zuhause.

Seit 350 Jahren lebt ihre Familie in der Region. Ihre Vorfahren kamen aus Guinea-Bissau im Westen von Afrika. Wie Millionen anderer Afrikaner*innen wurden sie ins koloniale Brasilien verschleppt. Hunderttausende starben bereits bei der Überfahrt, Millionen mussten nach der Ankunft Sklavenarbeit verrichten. Mehr noch: Die portugiesischen Kolonialherren verboten ihnen, ihre Sprachen zu sprechen, unterdrückten ihre Kultur und versuchten, jede Verbindung nach Afrika zu zerstören. Heute wissen viele Afrobrasilianer*innen nur wenig über ihre Wurzeln. Das war in Pires’ Familie anders.

Ihr Vater setzte sich als Aktivist für seine Quilombo ein, hielt viele Traditionen am Leben und gab sein Wissen an die Kinder weiter. Das unfassbare Leid ihrer Vorfahren, sagt Pires, treibe sie heute an. Vor einigen Jahren begab sich die Mutter von vier Kindern selbst auf eine Spurensuche. Im Jahr 2010 reiste sie im Zuge eines Universitätsprojekts nach Afrika: sieben Tage Kap Verde, sieben Tage Guinea-Bissau, dorthin also, wo ihre Vorfahren einst lebten. Mit der Reise habe sich für sie eine Lücke geschlossen, sagt Pires. Ein Traum sei in Erfüllung gegangen. Ihren afrikanischen Nachnamen trägt sie heute voller Stolz. «Ich würde sofort nach Afrika ziehen», sagt sie, «wenn ich alle aus der Quilombo mitnehmen könnte.»

Wie Diskriminierung konkret aussieht

Das Trauma sitzt bei vielen schwarzen Brasilianer*innen tief, auch weil Rassismus im 21. Jahrhundert immer noch Alltag ist. Wie die Diskriminierung konkret aussieht, zeigt auch ein Blick auf die Zahlen. 51 Prozent der Brasilianer*innen bezeichnen sich selbst als schwarz oder «pardo», also braun beziehungsweise gemischt. Nach Nigeria hat Brasilien die größte schwarze Bevölkerung der Welt. Fakt ist aber auch: 75 Prozent der von der Polizei Getöteten, 64 Prozent der Gefängnisinsass*innen, 75 Prozent der Ärmsten sind Schwarz. Alle 23 Minuten wird ein junger schwarzer Mann getötet. Schwarze haben eine geringere Lebenserwartung, schlechtere Bildungschancen und verdienen weniger. In den gut bewachten Vierteln der Mittel- und Oberschicht, auch «asphalto» genannt, leben fast nur Weiße. In den Peripherien, den gigantischen urbanen Backsteinwäldern, wohnen überwiegend Schwarze. Armut hat in Brasilien eine Farbe: schwarz. In kaum einem Land sind Rassismus und soziale Ungleichheit so eng miteinander verknüpft.

In Brasilien strukturiert der Rassismus jeden Bereich der Gesellschaft, eine koloniale Mentalität hat sich tief in die nationale Seele eingebrannt. Was das konkret bedeutet? Es bedeutet, dass es im 21. Jahrhundert immer noch völlig normal ist, als Weiße*r durch die Vordertür zu kommen, während Hausangestellte – meist schwarz und völlig unterbezahlt – die Hintertür benutzen müssen. Es bedeutet, dass häufig nur weiße Bewerber*innen gefragt sind, wenn in einer Stellenausschreibung ein «gutes Erscheinungsbild» verlangt wird. Es bedeutet, dass die schwarze Bevölkerung die Mehrheit stellt, aber in vielen Bereichen der Gesellschaft völlig unterrepräsentiert ist: in den Parlamenten, in der Wirtschaft, in den Redaktionen. Und es bedeutet, dass die Schönheitsnorm immer noch weiß ist, schwarze Kultur abgewertet wird und Afrobrasilianer*innen in der Unterhaltungsindustrie auf bestimmte Rollen reduziert werden: Fußballspieler, Sambatänzerin, Verbrecher.

Auch Pires erlebt regelmäßig Rassismus. Einmal sei sie mit ihrem Sohn im Krankenhaus gewesen, am Empfang habe eine Frau gestanden, sagt sie. Diese habe gefragt, ob Pires ihren Namen schreiben könne. Hätte sie das eine weiße Frau auch gefragt? «In Brasilien will niemand Rassist sein. Aber wir merken es an ihren Blicken und Gesten.»

Orte, an denen das afrikanische Erbe gelebt werden kann

Quilombos sind eine Gegenbewegung. Und es sind Orte, an denen Kultur und das afrikanische Erbe gelebt werden können, ohne Angst, ohne Scham. In der Quilombo Santa Rosa dos Pretos gibt es regelmäßig Feste, Musikveranstaltungen, religiöse Zeremonien. «Bereits mit dem Essen geben wir unsere Geschichte weiter», erklärt Pires, als sie später Fisch, Gemüse und Maniokmehl serviert.

Pires’ Quilombo besteht aus 20 Gemeinden, rund 1000 Familien wohnen dort. «Im Einklang mit der Natur», wie Pires betont. Die meisten Familien leben von der Landwirtschaft. Doch ihre Existenz ist bedroht. Mit dem Bau der Straße gingen die Probleme los. Immer mehr Großprojekte kamen in die Region. Stromleitungen wurden errichtet, eine Bahntrasse läuft quer durch das Gebiet. Häufig gibt es Konflikte mit Großgrundbesitzer*innen und Landräuber*innen. Ein Teil der Quilombo ist zwar offiziell als Schutzgebiet anerkannt. Doch es handelt sich nur um einen Bruchteil des beanspruchten Gebiets. So geht es vielen Quilombos. Heute besitzen nur neun Prozent der Quilombo-Gemeinden in Brasilien eine formelle Anerkennung. Außerdem, sagt Pires, gebe es viele Rechte «nur auf dem Papier». Und die Bolsonaro-Regierung mache vielen Quilombos zu schaffen.

Der rechtsradikale Präsident macht regelmäßig Stimmung gegen die selbstverwalteten Siedlungen. Landbesitzer*innen, forderte er einmal, sollten von ihren Waffen Gebrauch machen, wenn Quilombo-Bewohner*innen in ihre Gebiete eindringen würden. Ein anderes Mal sagte er nach dem Besuch einer Siedlung: «Sie tun nichts. Ich glaube, sie taugen noch nicht einmal zur Fortpflanzung.» Unter seiner Regierung wurden so wenige Landtitel vergeben wie nie zuvor. Gerade in Maranhão, dem Bundesstaat mit den meisten Quilombos, bangen viele Gemeinden um ihre Zukunft. Auch Pires meint: Seit Bolsonaros Amtsantritt habe sich das Klima spürbar verändert. Das hängt auch mit dem wachsenden Einfluss der Evangelikalen zusammen.

Wieder in den Farben Afrikas

In einer kleinen Kirche sitzt Severina Silva. Die 67-Jährige trägt ein Hemd mit Blumenmuster, große Kreolen-Ohrringe und klebt gerade Pailletten an einen glitzernden Kopfschmuck. «Für ein Fest im nächsten Jahr», erklärt sie. Silva ist eine Mãe-de-Santo. So werden in afrobrasilianischen Religionen die spirituellen Anführerinnen genannt. Die afrikanischen Sklaven brachten nicht nur ihre Kultur nach Brasilien, sondern auch ihren Glauben und die «orixás», ihre Götter. Die am meisten praktizierten afrobrasilianischen Religionen heißen Candomblé und Umbanda. Weil die Sklaven während der Kolonialzeit ihre Religionen nicht frei ausüben durften, nutzten sie häufig katholische Symbole. Auch im kleinen Gebetsraum der Quilombo Santa Rosa dos Pretos stehen vor einem Altar zahlreiche Heiligenfiguren. Von der Decke hängen bunte Tücher, an den Wänden befinden sich gezeichnete Bilder von schwarzen Göttern. Die Religionen afrikanischen Ursprungs sind christlichen Fundamentalist*innen schon lange ein Dorn im Auge. Evangelikale Pastor*innen verdammen sie als Hexerei, immer wieder gibt es Angriffe auf «terreiros», die Gebetsstätten. In ihrer Quilombo sei zum Glück noch nichts passiert, sagt Silva. «Aber wir müssen aufpassen.»

Vor dem Gebäude der Schule bleibt Pires stehen. Vor zwei Jahren, erzählt die Aktivistin, sei eine neue Direktorin eingestellt worden, eine Evangelikale, streng konservativ. Damals sei die Schule in den Farben Afrikas bemalt gewesen, rot, gelb, grün. Doch die Direktorin habe das Gebäude übermalen und auch Zeichnungen von afrikanischen Gottheiten und Widerstandskämpfer*innen entfernen lassen. «Teufelszeug» habe sie das genannt. So denken viele evangelikale Christ*innen. Doch damit brachte sie die Gemeinde gegen sich auf. Und am Ende setzten sich die Bewohner*innen durch. Mittlerweile ist das Gebäude wieder in den Farben Afrikas bemalt, an den Wänden sieht man kunstvolle Graffiti, die Konterfeis schwarzer Held*innen, eine Karte von Afrika, politische Slogans. Pires ist stolz auf ihre Gemeinde: «Trotz allem, wir lassen uns nicht unterkriegen.»

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