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Drüben auf dem Hügel

Wandeldekoration des Stillstands: Erinnerungen an die Bayreuther Festspiele

  • Gerhard Müller
  • Lesedauer: 7 Min.
Im Strudel der Leidenschaften: Tristan und Isolde in der neuesten Bayreuther Inszenierung
Im Strudel der Leidenschaften: Tristan und Isolde in der neuesten Bayreuther Inszenierung

»Schon am Anfang der ›Walküre‹ ist Sieglinde hochschwanger. Dabei ist ihr (…) ihr heißgeliebter, getrennter Zwillingsbruder Siegmund noch gar nicht wieder begegnet. Aber auch ihr Ehemann Hunding (…) ist nicht der Erzeuger des Kindes. Am Ende des zweiten Aktes macht sich nämlich ihr eigener Vater Wotan an die ohnmächtig auf der Treppe Liegende heran, zieht ihr das Höschen herunter und wird von der plötzlich Erwachenden weggestoßen.« So beschreibt ein Rezensent die neue »Ring«-Inszenierung in der Regie von Valentin Schwarz bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen – und kam zu der unwiderlegbaren Erkenntnis: »Bei Wagner steht das nicht so.« Allerdings trifft das auch auf alle anderen Bayreuther Inszenierungen seit 1950 zu, auf die Traumwelten Wieland Wagners oder Harry Kupfers wie auf die Historisierungen von Götz Friedrich oder Patrice Chéreau.

Im Sommer 1957 fuhr ich zum ersten Mal nach Bayreuth. Dem frischgebackenen Abiturienten, der ich damals war, hatte jemand zwei Karten für das Bayreuther Jugendfestspieltreffen geschenkt, ich war überglücklich. Zehn Tage später stieg ich in Bayreuth aus dem Zug und ging zum Grünen Hügel. Man wies mich zum Pressereferenten Herbert Barth, dem Leiter des internationalen Bayreuther Jugendfestspieltreffens. Der stammte aus Erfurt, begrüßte mich als Thüringer Landsmann und händigte mir zwei Billetts aus – für »Tristan und Isolde« (Regie: Wolfgang Wagner) und »Parsifal« (Regie: Wieland Wagner). Bayreuth, ein Traum.

Das Bayreuth von 1957 inszenierte sich als betont antifaschistisches Festival. »Hier gilt’s der Kunst« verkündete die Programmbroschüre, und »Onkel Wolf«, der militante Familienfreund von einst, war ausgetrieben: Nicht mehr gedacht sollte seiner werden, nicht im Liede, nicht im Buche! Ich suchte meinen Platz. Die Portale schlossen sich, die Bühne lag im Dämmerlicht. Hans Knappertsbusch gab den Einsatz, und das Festspielorchester – es war hauptsächlich die Dresdner Staatskapelle – setzte ein. Wie aus dem Nichts erhob sich der mystische As-Dur-Dreiklang des Vorspiels, und auf der Bühne erschimmerte ein grauer Stein – oder war es ein Kelch? – und erglühte am Ende des Vorspiels in einem unfassbaren Rot: der Gral.

So begann die Verzauberung, die heute vergangen ist. Die Bühne war »entrümpelt«, keine Burgen und Wälder, keine Gotik, keine Ritter, keine Jungfrauen kämmten sich mit goldenem Kamme. Auch Tristan und Isolde (Wolfgang Windgassen/Birgit Nilsson) schwebten, aller Wirklichkeit enthoben, durch gegenstandslose Licht- und Schattenwelten. Von Germanentum keine Spur. Manche vermissten das und machten bei fränkischer Bratwurst und Sekt ihrem Missmut Luft. Wollen wir dahin zurück? Keinesfalls. Aber wohin dann?

Vieles ist probiert worden, um Wagner vor sich selbst zu retten. 1976 sah ich den »Jahrhundert-Ring« als entzauberte Märchenerzählung. Patrice Chéreau und Pierre Boulez (der einst die Opernhäuser in die Luft sprengen wollte und sie nun eroberte) hatten sie in die Zeit der Pariser Kommune verlegt, was das Publikum entschieden missbilligte. Im proletarischen Outfit des Industriezeitalters betraten die Choristen die leere Bühne und versammelten sich um den Leichnam Siegfrieds. Es kamen Dutzende, Hunderte, es nahm kein Ende. Die Erinnerung an 1943 stellte sich ein, als Reichsminister Goebbels diesen Trauermarsch missbrauchte, um die Niederlage von Stalingrad zu einem Heldenlied umzulügen. Auf der Bühne erschienen die Toten von Stalingrad. Grelles Scheinwerferlicht zerriss das Dunkel, der lemurische Chor drehte sich um, starrte mit weit aufgerissenen, anklagenden Augen in das Publikum und wies auf den Leichnam: »Ihr wart dabei! Ihr seid schuld!«

Die Idee dieser Historisierung stammte vom Regisseur Joachim Herz und vom Bühnenbildner Rudolf Heinrich, die diese bereits in ihrem Leipziger »Ring« von 1973 bis 1976 realisiert hatten. Das entmenschte Gebrüll, das sich im Festspielhaus gegen dieses Sakrileg erhob, und den folgenden ebenso lautstarken Protest gegen den Protest werde ich nicht vergessen. Vor der Vorstellung waren sogar Zettel verteilt worden, auf denen die Erschießung der französischen Wagner-Schänder am Schluss der Vorstellung angekündigt wurde. Sie fiel jedoch aus. 1957 war man von solchem Eklat weit entfernt. Die Besucher folgten den theatralischen Geschehnissen ergriffen und stumm.

Der Einzug der aristokratischen Götter am Ende von »Rheingold« verblasst gegen den heutigen Einmarsch der aufrechten Demokraten ins Parkett. Die Rezension wird zum Protokoll. Man liest: »Zusammen mit Ehemann Joachim Sauer« sei Angela Merkel »bei Temperaturen von 35 Grad über den roten Teppich« geschritten, »es gibt freundlichen Applaus der Schaulustigen.« »Ein weiterer Stammgast ist Moderator Thomas Gottschalk. (…) In diesem Jahr kam er mit Partnerin Karina Mroß, sie trug eine Abendrobe in dunklem Pinkton mit viel Glitzer und einem Cape.« – »Merkel trug diesmal ein zweiteiliges gelbes Ensemble aus Blazer und langem Rock – ähnlich wie 2019. (…) Auch zu sehen – Grün. Die Bundesvorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, hatte diese Farbe gewählt. Ebenso die fränkische Weinkönigin Eva Brockmann.«

»Tristan und Isolde« beginnt: Stephen Gould und Catherine Foster bestreiten die Titelpartien in Roland Schwabs neuer Inszenierung. Beide können schwimmen. Der Regisseur wirft sie in einen Bühnen-Wasserstrudel, um vorzuführen, was der Strudel der Leidenschaften vermag. Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger musste nicht alarmiert werden, denn gegen alle Erwartungen ging das Paar nicht unter. Valentin Schwarz, der andere Jung-Regisseur dieses Jahres, erzählt die Nibelungen-Saga im Netflix-Stil, Walkürenritt in der Schönheitsklinik. Mit solcher Pracht und Macht der Bilder überschüttet uns das neueste Bayreuth. Man kommt nicht mehr zum Hören, doch die Musik steuert zu diesen Bildern ohnehin nichts Erhellendes bei.

Das Dauerthema des wagnerschen Antisemitismus strapazieren auch diesmal jene, die keine Noten lesen können. Deshalb verfehlen ihre Pfeile das Ziel. Denn die Juden, die Wagner schriftlich verdammt, sind in der Musik seine Helden – ob der »Fliegende Holländer«, der »Ahasver der Meere«, ob Tannhäuser oder Lohengrin, Tristan oder Siegmund, Siegfried, Parsifal oder Wotan, der ruhelose »Wanderer«. Sie alle sind Verfemte, Vertriebene, Flüchtlinge. Auch endet der »Ring des Nibelungen« nicht mit einer Apotheose des deutschen Kaiserreichs, sondern mit dessen Untergang im Feuersturm, wie es sich in der Tat ereignete. Wagners verhängnisvoller Aufsatz »Das Judenthum in der Musik« ist also unvollständig. Neben Mendelssohn und Meyerbeer, Mendelssohn Bartholdy, Heine und Börne hätte er auch den eigenen Namen auf seine Proskriptionsliste setzen und sich selbst verdammen müssen.

Vielen Bayreuther Inszenierungen seit 1950 ging es um die deutschen Zustände, von denen der Judenhass nur ein Aspekt war. Die Bühne wurde zum Tribunal, man erlebte oft reale Geschichte statt mystischen Nebel. Diese Historisierung durchzieht die jüngsten Bayreuther Jahrzehnte. Jetzt sind die alten Wege ausgeschritten, die Festspiele sind, mit Karl Kraus zu reden, eine Wandeldekoration des Stillstands. Man präsentiert Listen von Meisterwerken, von Beethovens »Fidelio« bis Orffs »Antigonae«, die man auch spielen könnte, um sie dann doch zu verwerfen. Jüngst machte der Weimarer Musikprofessor Jascha Nemtsov einen provokanten Vorschlag: Giacomo Meyerbeers Oper »Der Prophet« zu spielen. Die Wagnerianer erstarrten vor Schreck.

Meyerbeer ist ein Wagner ebenbürtiger Komponist. Anders als dieser machte er die wirkliche Geschichte zu seinem Gegenstand – die Bartholomäus-Nacht, die Kreuzzüge oder den Bauernkrieg. Seine Oper »Der Prophet« behandelt den Wiedertäufer-Aufstand von 1531 und könnte die deutsche Nationaloper sein. Wagner sah sie 1850 und war begeistert: »In dieser Zeit sah ich denn auch zum ersten Male den Propheten – den Propheten der neuen Welt: Ich fühlte mich glücklich und erhoben, ließ alle wühlerischen Pläne fahren, die mir so gottlos erschienen.« In der »Götterdämmerung« hat er Meyerbeers Sujet germanisiert. Anstelle des Schlosses von Münster brennt am Ende die Götterburg Walhall. Ein Fanal ist beides.

Neben Meyerbeer gehörten noch zwei andere in einen neuen Festspielkalender – Jacques Offenbach mit den Götterwelten der »Schönen Helena« und des »Orpheus in der Unterwelt« und Franz Liszt mit der »Faust«- und der »Dante«-Symphonie. Schließlich wäre noch Heinrich Heine als literarischer Pate aufzurufen. Sie alle waren vom Vormärz geprägt, wenn auch alles andere als untereinander einig. Sie haben die romantische Oper als Politikum erfunden und beschrieben. Mit ihnen könnte eine neue Tradition begründet werden. Heine war ein Gegner Meyerbeers und zugleich Wagners Stofflieferant (»Der Fliegende Holländer«, »Tannhäuser«). Wahrscheinlich kam auch Wagners Idee, deutsche Geschichte in Mythen und Sagen zu erzählen, ursprünglich von Heine. »Neu-Bayreuth« hat unser Wagner-Bild geformt. Inzwischen ist es gealtert. Es bedarf neuer Impulse. Meyerbeer wäre ein solcher, seine Rehabilitation ein Akt der Gerechtigkeit.

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