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Unfähig, etwas zu tun
Ein nd-Autor erinnert sich an die rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen
In den Nachrichten war von »aufgebrachten Bürgern« die Rede, die in Rostock vor einer Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) protestieren. Das ganze Wochenende vom 22. und 23. August 1992 war es Thema im Fernsehen. Alle bekamen mit, was passiert, ohne es zu verhindern. Von den Demos gegen den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf wusste ich, wie insbesondere die Bundespolizei auch große Menschenmengen auseinandertreiben konnte. Aber klar, da ging es gegen linke »Chaoten«, nicht um »aufgebrachte Bürger« wie jetzt, im August 1992.
Nahezu live bekam ich von Hamburg aus mit, wie sich 150 Kilometer entfernt ein brutalisierter Rassismus austobte. Die Bilder waren schlimm. Die Aufforderung per Telefonkette, mit der zu einer gemeinsamen Fahrt nach Rostock mobilisiert wurde, nahm ich gerne an. Ich war 28, noch ohne familiäre Verpflichtungen und konnte mir zwei Tage freinehmen. Sonntagabend starteten wir. Einige Leute aus dem Umkreis des ehrenamtlich betriebenen Antirassistischen Telefons Hamburg. Wir fuhren ins JAZ, das Jugendalternativzentrum am Rosengarten, mitten in der Rostocker Innenstadt.
Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, aus Rostock viele junge Antifas, unter den Angereisten viele aus Berlin und Hamburg. Alle zusammen vielleicht 300 Leute. Stundenlang wurde beratschlagt: Immer wieder wurde vorgeschlagen, nicht nur einzeln, sondern kollektiv zum Sonnenblumenhaus zu gehen und es auf offener Wiese militant gegen einen rassistischen Mob von tausenden Schaulustigen und gewalttätigen Neonazis sowie Jugendlichen zu verteidigen. Aber wie würde sich dann die Polizei verhalten? Aus Hamburg waren protesterprobte Hundertschaften vor Ort, die vermutlich routiniert uns Linke als Störenfriede abgeräumt hätten. Es wurde auch vorgeschlagen, von hinten in das Sonnenblumenhaus einzusickern, um es von innen heraus zu verteidigen. Ratlosigkeit, Verzweiflung.
Aus den Häusern kam von Unterstützer*innen der Rat, bitte wegzubleiben. Wir waren zu wenige, um etwas auszurichten. Nicht nur auf wenige Antirassist*innen wirkte die breite Medienberichterstattung mobilisierend. Auch die rassistischen Angreifer*innen bekamen Zulauf von anderswo, darunter etliche Nazikader. Am Sonntag und Montag waren es gegen Abend wohl jeweils an die 3000 Deutschen, die dort grölend und klatschend vor der ZASt und dem Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen standen. Wer ist denn Neonazi und wer Jugendlicher aus der Nachbarschaft – eine Unterscheidung war mir nicht möglich.
Die Polizei ließ die Angreifenden weitgehend gewähren, agierte defensiv. Wir saßen die meiste Zeit im JAZ und wussten: Die Polizei schaute bis auf ein paar kurze Platzräumungen zu, wie sich das rassistische Volksfest langsam steigerte. Der Rostocker Polizeidirektor Sigfried Kordus, ein Westimport, erklärte später, er könne doch nicht auf Bürgerproteste mit behelmten Hundertschaften reagieren. Für ihn sei es eine Versammlung wie ein Lampionumzug gewesen.
Erst nachts, als sich das rassistische Volksgewaltfest für diesen Tag ausgetobt hatte, sind wir aus dem JAZ nach Lichtenhagen gefahren. Dort gelang es uns gegen ein Uhr nachts, mit einer spontanen Demonstration die Restmenge der Angreifenden kurzzeitig zu verjagen und Parolen rufend durch den weitgehend schlafenden Stadtteil zu ziehen. Überall zerbrochene Gehwegplatten, zum Wurf bereite Steinbrocken neben Freizeitmüll, verbrannte, stinkende Plastikcontainer. In einigen Rückblicken wird diese Demo als Moment der Stärke interpretiert. Für mich war es das Gegenteil. Erst wenn alles vorbei ist, können wir auftreten. Pausenclowns. Auf dem Rückweg zum JAZ zeigte die Polizeiführung nochmal, was sie kann, wenn sie will – und ließ diejenigen der Antifa-Demo festnehmen, derer sie habhaft werden konnte: 60 Verhaftungen.
Am Montag wurde die ZASt seitens der Stadt geräumt, die Flüchtlinge außerhalb untergebracht. Am frühen Abend ging das rassistische Volksgewaltfest wieder los. Es war warm in diesem August, Wetter zum draußen sein. Zu viert schauten wir uns den Menschenauflauf aus einiger Entfernung an, ohne zu protestieren. Gegen neun Uhr abends wurde die Polizei vollständig abgezogen. Wieder die dumpfen Sprechchöre aus tausenden Kehlen: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!« Brandsätze wurden geworfen, Treffer wurden von den Umstehenden bejubelt.
Dann gingen einige Jugendliche rein, schlugen in den unteren Stockwerken die Einrichtung klein, versuchten Brände zu legen. Schließlich brannte erst eines der Hochhäuser lichterloh, dann beide, über mehrere Stockwerke. Davor die Menschenmenge, aus der heraus die Angriffe auf die Häuser erfolgten. Sie hinderten die Feuerwehr daran, zu löschen. Keine Polizei, nirgends. Die 150 Vertragsarbeiter*innen und Unterstützer*innen, die im Haus waren, konnten sich retten. Ohne Hilfe von außen, die es nicht gab.
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