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Offen für alle Widersprüche
Der Filmhistoriker und Chronist der Defa Ralf Schenk ist tot
Er hat die Defa-Geschichtsschreibung maßgeblich geprägt. Und immer war für ihn DDR-Filmgeschichte auch ein Stück Geschichte des Landes, in dem diese Monopol-Filmproduktionsfirma arbeitete. Er wusste alles über sie, wirklich alles. Noch kleinste Details und Schnurrpfeifereien. Bis ihn zuletzt sein Gedächtnis auf schlimme Weise im Stich ließ, bis ihm ein Tumor erst das Gedächtnis, dann die Sprache nahm. Mit 66 Jahren ist er gestorben.
Natürlich verfügte er über ein gigantisches Archiv, für das er emsig, fast besessen sammelte. Aber dessen Schätze konnte er auch sofort im Gespräch abrufen. Sein Pragmatismus gestattete ihm stets ein treffendes, begründetes Urteil, was seinem Nimbus zustattenkam. Ohne Ralf Schenks Arbeit wären viele Hintergründe in den Defa-Produktionszusammenhängen unbekannt.
Er hatte noch viele Pläne. Ein Lieblingsprojekt war die Erforschung der Defa-Filme auf 70 Millimeter. Die Defa hatte dieses Breitwandformat entwickelt, um die Attraktivität ihrer Filme zu qualifizieren. Und dieser Zusammenhang zwischen Format einerseits sowie Ästhetik und Filmsprache andererseits interessierte Schenk, das war sein besonderes Feld. Ein Sammelband mit Studien zu dem Defa-Regisseur Slatan Dudow, den er herausgeben wollte, muss nun ohne ihn zu Ende geführt werden.
Der 1956 Geborene schrieb schon als Oberschüler in thüringischen Kreisblättern kurze Texte – natürlich über Filme. Nach dem Journalistikstudium in Leipzig kam er nach Berlin, arbeitete in verschiedenen Redaktionen, unter anderem bei »Film und Fernsehen«, einer monatlich erscheinenden Fachpublikation. Und übers journalistische Schreiben entwickelte er über die Jahre hin seine besonderen Sichten auf Filme und deren Macher: sachlich, offen für alle Widersprüche, kritisch fragend und immer auch die Zusammenhänge im Auge behaltend, weil er wohl wusste, dass Filme nicht im luftleeren Raum entstehen und man Film nicht allein aus Film erklären kann.
Er war gerecht, obgleich er natürlich seine (heimlichen) Vorlieben hatte – Filme natürlich. Dennoch galt seine Aufmerksamkeit auch stets den Leuten, die diese Filme gemacht hatten, und da ließ er keinen aus: vom Star bis zum Kameramann.
Ein Sonderfeld waren für ihn Zeitzeugengespräche mit Defa-Leuten aller Art, die er einfühlsam und sachkundig ausfragte, auch dies ein Schatz. Die Defa-Geschichte war seine Domäne, die er souverän beherrschte und die quasi zu seinem Alleinstellungsfeld heranwuchs. So wurde er auch häufig, zum Beispiel für Kongresse, als Experte eingeladen.
Er schrieb viel und schnell, und dabei war ihm kein Genre zu schade. So sind Bücher, Begleitmaterialien zu DVD-Ausgaben von Defa-Filmen, zahllose Einzelfilmkritiken entstanden. Gut lesbar und informativ bleiben seine Texte allemal.
Er war ein kameradschaftlicher Kollege, mit dem man auch über Film hinaus reden konnte. So trafen wir uns einmal in der Hamburger Staatsoper, zu einem Verdi natürlich, denn er hatte auch etwas übrig für gefühlvoll-erzählendes Miteinander, wie es der Komponist mit seinen gängigen Melodien und schlichten Erzählungen bietet. Auch über neue Romane oder besondere Kunstausstellungen konnte man mit ihm unverkrampft und geradezu locker reden.
Die Digitalisierung der Defa-Filme wurde durch ihn massiv vorangetrieben und damit diesem wichtigen Teil der deutschen Filmgeschichte ein bedeutender Modernisierungsschub verliehen und zugleich weitere Vermarktungsmöglichkeiten eröffnet. Dass die Defa-Stiftung, die sein Vorgänger Wolfgang Klaue aufgebaut hatte, eine stabile, florierende Institution blieb, ist auch sein Verdienst. Von 2012 bis 2020 war Ralf Schenk Vorstand der Defa-Stiftung. Er war als Mitarbeiter des Filmmuseums Potsdam tätig, von 2014 bis 2020 Mitglied des Filmbeirats beim Goethe-Institut und lange Jahre in der Auswahlkommission der Berlinale. Für seine Bemühungen um das deutsche Filmerbe wurden ihm die Ehrendoktorwürde und das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Die große Lücke, die er hinterlässt, wird so schnell wohl nicht zu füllen sein.
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