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Wandel hinter den Kulissen
Die letzten Notizen aus Venedig (4): Auch in der Lagunenstadt bleibt die Zeit nicht stehen. Das musste schon Hermann Hesse erleben
Ich habe nachgezählt, dies ist meine 70. Venedig-Kolumne in zwölf Jahren. Nun kann man mit Recht sagen, was will da jemand noch schreiben, was er zuvor 69-mal nicht geschrieben hat? Das frage ich mich auch. Neu ist da nichts mehr, aber ab und zu wird einem das scheinbar Altvertraute fremd.
In Venedig wird zum Glück fast nichts Neues gebaut. Trotzdem gibt es viele Baukräne in der Stadt – man hat genug damit zu tun, gegen den Verfall anzukämpfen. Vielleicht entwickelt die Vehemenz, mit der sich Venedig gegen jede Veränderung stemmt, eine eigene Magie? Gerade hörte ich, dass eine Wohnung, in der ich bereits zweimal wohnte, direkt hinter dem Krankenhaus, ganz oben unter dem Dach, wo man lange mühsam viele Treppen hinaufsteigen musste, nun einen Fahrstuhl bekommen hat.
Die Unternehmung war seit Langem geplant. Im Innenhof stand schon vor zehn Jahren ein damals bereits verrostetes Gestell. Das war der erste Versuch, hier den Fortschritt zu etablieren. Den stoppte der hier jederzeit wachsame Denkmalschutz. Der Streit ging darum, ob der Fahrstuhl in der Mitte des Hofes oder an einer der Hauswände gebaut werden sollte. Nun ist er also doch noch fertig geworden, ich höre das mit leiser Trauer. Denn bis eben war es eine unbequeme Wohnung, für Amerikaner unerreichbar hoch, also hatte sie einen erschwinglichen Preis. Natürlich ist sie jetzt sofort teurer geworden.
Ähnliche Erfahrungen machen Besucher seit Langem. Vielleicht stimmt es also gar nicht, dass Venedig ein Bollwerk gegen die rasende Zeit ist? In der besten Zeit der Stadt wurden hier zahlreiche Veränderungen vorangetrieben – immer unter Wahrung des Anscheins von Beständigkeit. Neben der Erfindung des Kreditwesens ersann man hier auch andere Arten, die staatlichen Einnahmen in die Höhe zu treiben. Alle Handelsschiffe etwa gehörten der Republik. Kaufleute mussten sie mieten, je nach Route mitsamt Begleitung durch schwer bewaffnete Galeeren.
Einer kam nur zweimal nach Venedig, dann hatte er genug gesehen: Hermann Hesse. Das erste Mal, 1901, war er noch fasziniert. Dann kehrt er zwei Jahre später wieder – und zeigt sich irritiert über die hier betriebene Kulissenschau. Wo ist der Zauber hin? Als Erstes fällt ihm die Leere auf dem Markusplatz unangenehm ins Auge. Hier stand der Campanile, der 1902 eingestürzt war. An seiner Stelle wird umgehend mit dem Bau eines neuen Turms begonnen, bereits touristengerecht mit Fahrstuhl. 1912 ist er fertig – eine bloße Kopie. Venedigs Disneyland-Geschichte ist also keinesfalls neu.
Hesse mietet sich ein Zimmer, »groß, schlecht eingerichtet«. Aber der Ernüchterungen sind damit noch nicht genug. Als er in sein Lieblingslokal der ersten Reise kommt, das »Cavaletto«, ist auch hier nichts mehr so, wie er es kannte. Man kann eben nicht zweimal in denselben Fluss steigen, wusste Heraklit – für Hesse scheint dies eine neue Erfahrung zu sein: »Das Gericht Fritta Mista im Cavaletto bekam mir übel, auch war dort ein impertinenter Kellner, so dass ich die mir von damals wohlvertraute Schenke nun meiden werde.«
Sein Zimmer, das er sich so übereilt gesucht hat, wird ihm noch unliebsame Überraschungen bereiten. Er ahnt das bereits, als er am 15. April 1903 notiert: »Merkwürdig ist meine Wohnung: das ganze große Haus ruinös, Treppe schadhaft, die Familie schmutzig und naiv, die Zimmer riesig, doch nicht hoch.« Eine typische venezianische Zwischenetage, gebaut für das Dienstpersonal. Zwei Tage später – das Wetter ist scheußlich, es regnet und stürmt unablässig – wird sich seine ungute Ahnung, dass mit seinem Zimmer etwas nicht stimme, bestätigen.
Nach einer schlaflosen Nacht, weil von nebenan ständig Streit und Musik herüberdringt, wird er morgens um 9 Uhr aus dem Bett getrieben. Männerfäuste poltern gegen seine Tür, so Hesse, ein großer Lärm hebt an: »Das Haus war voll Getöse, Elend und Skandal. Schließlich wurden wir alle bei strömendem Regen und Sturm auf die Straße gesetzt.«
Es stellt sich heraus, dass die Hauptmieterin der Wohnung mit ihren Zahlungen so in Verzug war, das die Wohnung geräumt wurde – samt all ihren Untermietern. So hat Hesse wieder etwas von seinem ohnehin knappen Geld verloren. Was soll er tun, so plötzlich im Unwetter mit seinen Sachen auf der Straße stehend? Er geht zu dem Haus, in dem er 1901 gewohnt hatte. Eine gute Entscheidung: »Zu meinem Erstaunen kannte mich die alte Hauswirtin sogleich wieder und redete mich mit Namen an.«
Er bekommt sein altes Zimmer – und auch etwas vom alten Venedig-Gefühl stellt sich nun wieder ein. Aus seiner knappen Kasse und dem Ärger im »Cavaletto« macht Hesse etwas für ihn Typisches: Er wird, auch wegen der damals schon notorisch schlechten Restaurants, zum Selbstverpfleger. Das ist noch heute die beste Art, in Venedig zu essen. Und so geht er mit „selbst eingekauftem Käse und Schinken» in die Weinbar Giacomuzzi (das sollte man heute einmal versuchen!) und sitzt am Tisch mit jungen Venezianern, deren Dialekt er nun immer besser versteht.
Man hält ihn für einen böhmischen Glasbläser, den es nach Murano zieht. Er trinkt reichlich Chianti und »schweren Apothekerwein«, eine Bezeichnung aus der Zeit, als man spanische Weine noch als Stärkungsmittel in der Apotheke verkaufte. Er droht aus dem inneren Gleichgewicht zu geraten, lässt sich gehen, wie ein knapper Eintrag vom 15. April 1903 zeigt: »Dummes Abenteuer mit fetter Wienerin.« Immerhin, auch für ihn wird Venedig zu einem Ort, an dem er an sich selbst eine unbekannte Seite entdeckt, die ihm jedoch unangenehm ist. Er kehrt nie hierher zurück – nur in den bösen Träumen des »magischen Theaters« im »Steppenwolf«.
Die Venedig-Kolumnen der letzten Jahre von Gunnar Decker sind unter dem Titel »Venedig für Skeptiker« mit Illustrationen von Dieter Goltzsche im Quartus-Verlag erschienen.
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