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Verhängnisvoller Hass im Netz
Mangelnde Sensibilisierung und die Architektur sozialer Medien führen zu einem Anstieg digitaler Gewalt
Hass und Gewalt stellen im digitalen Raum längst keine Ausnahme mehr dar. Sie gehören zum Alltag und ihre Dimensionen sind so eindrucksvoll, wie erschreckend: Jeder zweite junge Erwachsene in der Europäischen Union war schon einmal persönlich von Belästigung, Diffamierung, Nötigung und weiteren Formen digitaler Gewalt betroffen. Nahezu ausnahmslos alle der 18 bis 35-Jährigen sind zumindest Zeug*innen davon geworden. Die Ergebnisse stammen aus einer Studie von Hate Aid, der ersten bundesweiten Beratungs- und Anlaufstelle für Betroffene von digitaler Gewalt, die bereits im vergangenen Winter veröffentlicht wurde. Die daraus abzuleitende Frage, ob Drohungen weniger ernst zu nehmen sind, wenn sie anonym und im Schutze des Internets geäußert werden, ist zwar keine neue. Aktualität bekommt sie durch den tragischen Tod der österreichischen Ärztin Lisa-Marie Kellermayr. Die Medizinerin nahm sich vor wenigen Wochen das Leben, nachdem sie sich in den sozialen Medien zuvor monatelang mit Anfeindungen aus dem Spektrum der Corona-Leugner*innen konfrontiert sah.
Josephine Ballon ist Leiterin der Rechtsabteilung bei Hate Aid. Auch wenn es in der Beratungsstelle noch keinen vergleichbaren Fall gegeben habe, zeigten die jüngsten Geschehnisse, »was Drohungen in dieser Intensität mit Betroffenen machen kann«, sagt sie dem »nd«. Im Gespräch betont sie, dass digitale Gewalt in Form von Bedrohungen und Hetzkampagnen einer klaren Strategie folgt, bei der es nur in den seltensten Fällen um die tatsächlich betroffene Person geht. Von größerer Bedeutung sei die gesellschaftliche Dimension des sogenannten Silencing-Effektes. »Ob Sinnhaftigkeit von Impfstoffen, Frauenrechte oder Klimaaktivismus – mittlerweile eignen sich alle möglichen Themen, um Menschen in den sozialen Medien mundtot zu machen«, sagt sie. Den Erfolg dieser Strategie unterstreicht eine Studie aus dem Jahr 2019, derzufolge sich bereits fast die Hälfte der befragten Internetnutzer*innen nicht mehr traue, im Netz öffentlich ihre Meinung zu äußern. »Da findet eine Verschiebung des Diskurses statt, betrieben von denjenigen, die sehr gut verstanden haben, wie man Algorithmen nutzt«, erklärt Ballon. Das Ergebnis: Auch all jene Nutzer*innen, die zwar nicht direktes Ziel von Bedrohungen, sondern lediglich Zeuge davon werden, überlegten sich fortan mindestens zwei Mal, ob sie sich online noch zu bestimmten Themen äußern oder nicht.
Riesige Echokammern auf Telegram
Ähnliches weiß auch der Medienethiker Christian Gürtler von der Friedrich-Alexander-Universität in Nürnberg zu berichten. Einerseits bedinge die Struktur der Plattformen und der ihnen zugrundeliegenden Algorithmen, dass »eine kleine Minderheit eine große Masse an Menschen erreichen kann«, sagt er dem »nd«. Etwa, indem viele Accounts in kurzer Zeit dieselben Hashtags zum Verschlagworten ihrer Beiträge benutzten, um diesen damit zu mehr Sichtbarkeit in den sozialen Medien zu verhelfen. Dies funktioniere aber nur, »weil die Leute einfach sehr gut vernetzt sind«, weiß Gürtler und spielt damit auf den bei Anhänger*innen von Verschwörungsideologien wie Impfskeptiker*innen beliebten Messengerdienst Telegram an. »Dort gibt es riesige Echokammern, in denen die Leute nur noch gezielt nach Informationen suchen, die bereits ihrer eigenen Meinung entsprechen«, erzählt er. Insbesondere Angehörige der LGBTIQ-Community, Frauen, Menschen mit bestimmter Religionszugehörigkeit sowie mit Migrationshintergrund seien beinahe täglich mit Hass im Netz konfrontiert. Um dem zu entgehen, zögen sich Betroffene irgendwann aus den sozialen Medien zurück.
Umso problematischer erscheint, dass Betroffenen digitaler Gewalt seitens der Strafverfolgungsbehörden häufig noch immer zu genau diesem Schritt geraten wird. Erst vor wenigen Monaten sorgte ein Experiment der Sendung ZDF Magazin Royale in Zusammenarbeit mit Hate Aid für Aufsehen. Das Team um den Satiriker Jan Böhmermann hatte eine identische Auswahl von Hasskommentaren und Gewalt- und Todesdrohungen mit rassistischem Hintergrund aus diversen sozialen Netzwerken gesammelt und diese gleichzeitig in allen 16 Bundesländern zur Anzeige gebracht. Nach einem Dreivierteljahr konnte lediglich ein einziger Täter ermittelt werden, vielerorts wurden die Fälle seitens der bearbeitenden Polizeibehörden nicht ernstgenommen; Anzeigen zwar aufgenommen, jedoch nicht weiter bearbeitet.
Nutzern das Leben zur Hölle machen
Für Jospehine Ballon und das Team von Hate Aid stellten die Ergebnisse des Experimentes keine große Überraschung dar. Es habe unterstrichen, »dass wir noch sehr viel Arbeit vor uns haben, auch was Fortbildungen und Sensibilisierung für das Thema bei der Polizei betrifft«, sagt sie. Auch Christian Gürtler sieht dringenden Handlungsbedarf. Es sei zwar davon auszugehen, dass das Thema für viele Behörden und auch Lehrkräfte mittlerweile kein gänzlich Unbekanntes mehr sei. »Aber wie konkret digitale Gewalt funktioniert und welche Ausmaße das auch im psychischen Bereich bedeutet«, dafür fehle vielerorts noch das nötige Verständnis. Ihm geht es daher auch nicht nur darum, Kindern und Jugendlichen entsprechende Strategien zu vermitteln. Insbesondere Erwachsene gelte es für die Problematik zu sensibilisieren.
Die Gegenseite verfügt indes längst über entsprechendes Wissen. So kursiert aus dem Umfeld der Identitären Bewegung im Netz bereits seit Jahren eine detaillierte Anleitung dazu, wie sich Menschen im digitalen Raum »fertig machen lassen«. Großer Beliebtheit erfreut sich in entsprechenden Kreisen auch ein rechtsextremes Internetforum aus den Vereinigten Staaten. Darin gibt es unter anderem einen öffentlich zugänglichen Bereich, der einzig und allein folgendem Zweck dient: Nutzer*innen beliebiger Plattformen ausfindig zu machen, denen man fortan mit gemeinsamer Kraft das (digitale) Leben zur Hölle macht.
Die Plattformen und die Sicherheitsbehörden
Mit dem »Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität« sind Anbieter sozialer Netzwerke mit mehr als zwei Millionen Nutzer*innen seit Februar diesen Jahres in Deutschland dazu verpflichtet, ihnen gemeldete und als potentiell als strafbar einzustufende Inhalte auf ihren Plattformen nicht nur zu löschen, sondern ebenfalls dem Bundeskriminalamt (BKA) weiterzuleiten. Zu Beginn zeigte man sich dort noch zuversichtlich, dass die eigens dafür eingerichtete Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZIM) pro Jahr bis zu 250 000 solcher Meldungen erhalten werde. Bislang habe man allerdings erst knapp 2000 Meldungen erhalten, von denen etwa 75 Prozent strafrechtlich relevant waren, wie die Behörde auf Nachfrage dem »nd« mitteilt. In etwas mehr als der Hälfte der Fälle konnten die mutmaßlichen Urheber*innen ermittelt werden. Ein Sprecher des BKA erklärt die niedrigen Zahlen damit, dass die bisher im ZIM eingehenden Meldungen lediglich von zivilgesellschaftlichen Meldestellen und Staatsanwaltschaften aus Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen kämen. Der Grund dafür: Die großen Plattformen Google, Meta, Twitter und Tiktok hatten erfolgreich Klage gegen die im Netzwerkdurchsuchungsgesetzes enthaltene Meldepflicht eingereicht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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