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Nicht nur erinnern
Demonstranten in Rostock fordern grundlegende Änderungen in Asyl- und Migrationspolitik
Tausende Menschen haben am Samstag im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen mit einer Demonstration an die tagelangen Angriffe auf Asylsuchende und vietnamesische Vertragsarbeiter im August 1992 und weitere rassistische Anschläge von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart erinnert. Die Polizei sprach von 3600 Teilnehmenden der Demo unter dem Motto »Erinnern heißt verändern«, die Organisator*innen von bis zu 5000. Ein Bündnis aus regionalen Vereinen und Initiativen hatte bundesweit zu der Kundgebung mobilisiert.
Auf Transparenten und selbstgemachten Plakaten waren Parolen wie »Solidarität statt Ausgrenzung« und »Alle zusammen gegen den Rassismus« zu lesen. Polizei und Sicherheitsorgane wurden in Sprechchören unter anderem wegen ihres Umgangs mit den Verbrechen des rechtsterroristischen NSU kritisiert. Die Täter konnten über Jahre ungestört mindestens neun Migranten ermorden, während die Polizei Familienangehörige verdächtigte. Außerdem verlangten Demonstrant*innen, die von den Pogromen betroffenen Sinti und Roma materiell zu entschädigen und ihnen ein Rückkehrrecht einzuräumen. Die meisten von ihnen wurden damals zuerst aus der Stadt gebracht und später abgeschoben.
»Es geht uns nicht darum, immer zum runden Jubiläum der rassistischen Pogrome große Veranstaltungen in Rostock zu machen«, sagte Imam-Jonas Dogesch, der Sprecher des Demobündnisses, gegenüber »nd«. Vielmehr gelte es, den bis heute alltäglichen Rassismus in Deutschland zu bekämpfen. Dieser zeige sich auch in den Asylrechtsverschärfungen, die vor den Pogromen von Rostock und ein Jahr zuvor im sächsischen Hoyerswerda geplant und im Mai 1993 vom Bundestag verabschiedet wurden. Das individuelle Recht auf Asyl wurde faktisch abgeschafft – mit den Stimmen der damals oppositionellen SPD.
Damit habe man den Rechten das Gefühl gegeben, sie hätten »mit ihren Pogromen Erfolg gehabt«, sagte ein Sprecher einer antifaschistischen Gruppe, die sich an der Demonstration beteiligt hat. »Sie haben ›Ausländer raus‹ gegrölt und Brandsätze in bewohnte Häuser geworfen, und danach diskutieren die Politiker*innen von Union und SPD, wie möglichst schnell das Asylrecht eingeschränkt wird, anstatt sich hinter die angegriffenen Menschen zu stellen«, empörte er sich.
Imam-Jonas Dogesch kritisierte daher auch, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede am vergangenen Donnerstag in Rostock auf einer Veranstaltung zum 30. Jahrestag der Pogrome mit keinem Wort auf die Verschärfungen des Asylrechts in der Folge einging. Zudem monierte er, dass der Politiker sich nicht mit Izabela Tiberiade, der Tochter Überlebender des Pogroms, getroffen hat. Sie hatte am Tag von Steinmeiers Besuch auf einer Veranstaltung des Roma Center e. V. in Rostock über das Schicksal ihrer Eltern und das anderer Betroffener berichtet.
Die Juristin lebt in Schweden und engagiert sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen der Roma. Ihre Eltern verließen Anfang der 1990er Jahre Rumänien und hofften, sich in Deutschland ein besseres Leben aufbauen zu können. Im August 1992 wohnten sie in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) in Rostock-Lichtenhagen, die von jungen Neonazis zuerst angegriffen wurde. Danach wurden viele der Roma von der Polizei aus der Stadt gebracht. Nicht nur die Angreifer und diejenigen, die die Gewalt bejubelt hatten, sondern auch viele Antifaschist*innen sahen hierin eine Kapitulation des Staates vor den Rechten. Auf der Veranstaltung vergangenen Donnerstag sagte Izabela Tiberiade: »Es gab damals für die Familien keinerlei psychologische Unterstützung, weder in Deutschland noch in Rumänien, und viele der Überlebenden konnten das Erlebte gar nicht richtig verarbeiten – auch weil es so lange totgeschwiegen wurde.«
Auf der Demonstration zeigte sie sich gleichwohl überzeugt, dass die Rechten langfristig keinen Erfolg hatten. Vor 30 Jahren hatte die Straße dem rechten Mob samt den Unterstützer*innen aus der Nachbarschaft gehört. Nun aber sprachen Überlebende auch anderer rassistischer Anschläge in Deutschland, ihre Angehörigen und Freund*innen. Dazu gehörten die Geschwister von Ferhat Unvar und Said Nesar Hashemi, die am 19. Februar 2020 bei dem rassistischen Anschlag in Hanau ermordet wurden.
Auch Peer Stolle sprach auf der Demo. Er gehörte vor 30 Jahren als Jugendlicher zu der kleinen Zahl Rostocker Antifaschist*innen, die sich dem rechten Mob entgegenstellen wollten. Sie mussten damals wie auch Antifaschist*innen, die zur Unterstützung aus Berlin und Hamburg angereist waren, erleben, wie die Polizei Dutzende Linke verhaftete und so den Rechten die Straße freihielt. Heute lebt Stolle als Anwalt in Berlin. Aus Anlass der Demo kehrte er zurück in ein Rostock, in dem die Straße den Antifaschist*innen gehörte.
Imam-Jonas Dogesch bezeichnete die Demo samt Abschlusskundgebung vor dem Sonnenblumenhaus, das damals vom rechten Mob in Brand gesetzt worden war, als großen Erfolg. Im Gespräch mit »nd« merkte er aber kritisch an, dass sich nur wenige Bewohner*innen aus Rostock-Lichtenhagen an der Demonstration beteiligt hätten. Die meisten Fenster seien geschlossen gewesen: »Die Menschen standen hinter den Gardinen und haben sich nicht mit den Demonstrant*innen solidarisiert. Damals haben sie geklatscht, heute wollen sie mit den Ereignissen zum 30. Jahrestag nichts mehr zu tun haben.« Doch die bundesweite antifaschistische und antirassistische Mobilisierung zeige auch, dass die Zeit des Verschweigens vorbei sei und dass die Strategie des Sich-zum-Opfer-Stilisierens vieler Deutscher nicht mehr unwidersprochen bleibe.
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