- Berlin
- Schulplatzmangel
Beengte Verhältnisse
Kritik an der geplanten Verschiebung vieler Schulsanierungen wird lauter
Folgt man Berlins Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD), dann läuft es rund an den 700 öffentlichen Schulen der Hauptstadt. Wie sie anlässlich des neuen Schuljahres erklärte, gebe es zwar nun fast 7000 Schülerinnen und Schüler mehr als im Vorjahr. Aber: »Alle Kinder haben einen Schulplatz bekommen«, so Busse. »In der Hälfte unserer Grundschulen sieht es sehr gut aus«, ergänzte ihr Staatssekretär Alexander Slotty (SPD) mit Blick auf etwaige Erhöhungen der Klassenfrequenzen. Die Berliner Schulbauoffensive mache es möglich.
Ein anderes Bild zeichnet ein aktueller Bericht der Bildungsverwaltung, aus dem die Differenz zwischen den Schulplatzkapazitäten und dem eigentlichen Bedarf ersichtlich wird. Demnach wurden seit 2016 im Zuge der Schulbauoffensive zwar 25.000 neue Schulplätze geschaffen. Das scheint aber nur für den hohlen Zahn zu reichen. So beläuft sich »das rechnerisch ausgewiesene Defizit« berlinweit inzwischen auf rund 20.000 Plätze. Die bildungspolitische Kampagne »Schule muss anders« kommt sogar auf 23.400 Plätze. Insbesondere bei den Grundschulplätzen sieht es in mehreren Bezirken düster aus, vorneweg in Pankow und Marzahn-Hellersdorf mit jeweils weit über 2000 Plätzen.
Folgen des als rein rechnerisch abgetanen Defizits seien dabei gravierend, warnen Bildungsexperten. »Die individuelle Förderung von Kindern ist so – noch dazu bei fehlendem Fachpersonal – nur schwer möglich. Dem Anspruch einer inklusiven Schule können unter diesen Bedingungen die Schulkollegien kaum gerecht werden«, sagt etwa Regina Kittler, die bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Marzahn-Hellersdorf.
Bei der Kampagne »Schule muss anders« ärgert man sich auch über die »Schönrednerei« von Bildungssenatorin Busse. »Die Aussage ›Alle Schüler*innen sind doch versorgt‹ ist kaum mehr als eine quantitative Sichtweise«, sagt Kampagnensprecher Philipp Dehne zu »nd«. Dehne sieht Berlins Schulen dann auch bereits jetzt am Anschlag: »Vielerorts werden Schulen mit immer mehr Klassen vollgepackt, es gibt weniger Möglichkeiten für Teilungsunterricht, Fachräume werden als Unterrichtsräume genutzt: Unter alldem leidet die Unterrichtsqualität.« Und im Gegensatz zur Bildungsverwaltung kann Dehne auch bei den Klassenfrequenzen keine Entspannung erkennen: »Tatsächlich werden die Klassen größer und größer.«
Umso unverständlicher sei es, dass die Senatsfinanzverwaltung im aktuell diskutierten Investitionsprogramm für die Jahre 2022 bis 2026 zahlreiche Schulsanierungen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wolle. »Wozu Kürzungen in diesem Bereich führen können, zeigt anschaulich die jetzt dicht gemachte Anna-Lindh-Schule«, so Dehne weiter. Das lange Zeit nur notdürftig instand gehaltene Schulgebäude im Wedding musste kurz vor Beginn des neuen Schuljahres wegen Schimmelbefalls geschlossen werden. Ein Abriss steht im Raum, die 700 Schülerinnen und Schüler müssen in ein eigens angemietetes Bürogebäude in Charlottenburg ausweichen.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert in Sachen Investitionen unterdessen »alle beteiligten Senats- und Bezirksverwaltungen dazu auf, das Zuständigkeits-Pingpong zu unterlassen«. Dringend notwendige Sanierungsvorhaben dürften nicht ausgebremst werden. »Wer Schulen nicht oder zu spät saniert, nimmt bewusst den Verlust von Schulplätzen in Kauf«, sagt Berlins GEW-Chef Tom Erdmann, ebenfalls mit Verweis auf das Beispiel der runtergekommenen Anna-Lindh-Schule.
GEW und »Schule muss anders« stehen mit ihrer Kritik an der Investitionsplanung keineswegs allein. Auch der Landeselternausschuss läuft Sturm gegen die Inhalte des Programms, das wohl bereits in der kommenden Woche vom Senat beschlossen werden könnte. Am Mittwoch startete der Ausschuss daher eine größer angelegte Protestaktion »gegen Kürzungen bei der Schulbauoffensive«. Berlins Elternschaft wird aufgefordert, massenhaft Protestmails an die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), alle Senatorinnen und Senatoren, die Fraktionsspitzen sowie die bildungspolitischen Sprecherinnen und Sprecher von SPD, Grünen und Linke im Abgeordnetenhaus zu schicken.
Der Bau zusätzlicher Schulen dürfe ebenso wenig verschoben werden wie die Renovierung und Sanierung, denn nur so könne »ein schulisches Umfeld geschaffen werden, in dem unsere Kinder unter vernünftigen Bedingungen lernen können«, heißt es in einem Entwurf für die Protestmail. Durch die vorgesehenen »massiven Kürzungen bei den Investitionen bei Schulbauten« werde »die Schulbauoffensive zu Grabe getragen«. Die Forderung ist klar: »Die Zukunft unserer Kinder ist massiv gefährdet. Lassen Sie das nicht zu!«
In der ebenfalls adressierten Bildungsverwaltung teile man zwar im Wesentlichen die Kritik an dem von der Finanzverwaltung vorgelegten Investitionsprogramm, heißt es auf nd-Anfrage. Man setze alles daran, dass möglichst zügig neue Schulplätze entstehen, und führe deshalb auch Gespräche mit dem Finanzressort. Für überzogen hält man gleichwohl die Aufregung um die fehlenden Schulplätze. Es handele sich bei den im Bericht ausgewiesenen Zahlen »ausschließlich um rechnerische Größen, die sich aufgrund einer Vielzahl raumgreifender Standards so abbilden«. Festgelegte Zielvorgaben »zu Ganztag, Inklusion und Barrierefreiheit oder auch Klimaschutz« seien hier miteinberechnet.
Und überhaupt, so die Bildungsverwaltung: »Ohne die Berliner Schulbauoffensive und Schulsanierungsmaßnahmen würde das rechnerische Defizit statt bei 20.600 bei 45.000 bis 50.000 Plätzen liegen. Nach unseren Planungen wird Berlin das rechnerische Defizit bis zum Jahr 2026 dadurch bereits sehr deutlich reduzieren können.«
Die Argumentation sei wiederum typisch für das Haus von Bildungssenatorin Busse, sagt Philipp Dehne von »Schule muss anders«: »Man klopft sich auf die Schulter für Dinge, die etwas besser laufen, hat aber keine Probleme damit, den Mangel einfach weiterzuverwalten.«
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