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Warum ich Osteuropa begehre

Den fußballerischen Glanz alter Tage haben die osteuropäischen Fußballvereine schon lange abgelegt – es gibt trotzdem viele Gründe, sie zu mögen

  • Frank Willmann
  • Lesedauer: 3 Min.
In dem Mehrzweckstadion in der bulgarischen Stadt Plowdiw können bis zu 55 000 Menschen Fußballspiele oder Leichtathletik-Wettbewerbe anschauen.
In dem Mehrzweckstadion in der bulgarischen Stadt Plowdiw können bis zu 55 000 Menschen Fußballspiele oder Leichtathletik-Wettbewerbe anschauen.

Obwohl ich mit Wasserklosett, Lift und Warmwasser aus der Leitung aufgewachsen bin, liebe ich rumänische Filzläuse, sehschwache kosovarische Autofahrer, rührselige Moldawier, galizische Wanzen und bulgarische Flöhe.

Ich verzichte liebend gern auf seelenlose Mega-Westvereine, bei erbsenhirnigen Superstars geht mir keiner ab. Ich verehre erbsenhirnige, serbische Fleischberge, die mich unheimlich voranbringen. Liegt zu meiner Linken eine herbe und leicht gammelige ukrainische Zwiebel und zu meiner Rechten ein exquisiter französischer Weichkäse, werde ich immer in die Zwiebel beißen.

Ich reise gern in die abgelegenen osteuropäischen Provinzen, die heute nur von ihrem verwichnem fußballerischen Glanz aus alten Zeiten leben und aus Fußballspielen eine chauvinistische Angelegenheit machen.

Natürlich nur in den Augen Westeuropas. Der Osten guckt, riecht und liebt auf seine ganz eigene Art. Die Homies im Osten haben mit anderen Problembärinnen zu kämpfen. Setzt eure fucking postkoloniale Westbrille ab und versucht, die Leute zu verstehen! Nur weil sie über bestimmte Dinge fremder denken als wir, sind sie keine rückständigen Neandertaler.

Ich lebe ein Doppelleben. Einmal Fan des Fußball-Troubles auf dem Balkan, dann wieder Freund russischer Großmeister: Bulgakow, Dostojewski, Tschechow.

Wahre osteuropäische Fußballer ähneln in ihrer Theatralik Clowns. Das ist etwas Schönes, weil Fußballer wie Clowns sedierende Mittel gegen den Schmerz sind: Mit ihrem Spiel wird alles besser. Der abgehängte Fußball im Osten ist das letzte sakrale Schauspiel unserer Zeit.

Ich schiele vom schwankenden Turm der westlichen Zivilisation auf den näherkommenden Osten und bedaure niemals aus purer Humanität die mangelhafte Kanalisation oder den brüchigen Straßenbelag in Montenegro.

Ich bin gegen das Wegsperren (aus Furcht vor Ansteckung) armer Emigranten in Lager. Natürlich auch gegen das Überlassen der Lösungen aller sozialen Probleme an großmäulige lokale Kleindiktatoren ohne Schulbildung, aber mit viel Kalaschnikow.

Dieser Text soll nicht von kulturellen Rechtfertigern gelesen werden, die es mir übelnehmen, dass ich die Menschen im Osten mit Liebe behandle und nicht mit professioneller Sachlichkeit, die immer nur die böse Oma der Langeweile ist.

Ich schreibe für Leute, die Achtung haben vor Schmerz, Armut, Schmutz. Menschen, die fühlen, dass man vom Osten viel empfangen kann, oder wenigstens ahnen, dass aus Montenegro, Rumänien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Albanien usw. große Menschen und große Ideen kommen und nicht nur Taschendiebe, Hütchenspieler und Bettlerinnen, die das westliche Europäertum hochnäsig als »Gäste aus dem Osten« bezeichnet.

Der Ostler sieht mit einer Sehnsucht nach dem Westen, die der Westen keinesfalls verdient. Dem Ostler bedeutet der Westen Freiheit, die Möglichkeit, zu arbeiten und seine Talente zu entfalten, nebst Gerechtigkeit und Herrschaft des Geistes und nicht der Gewalt.

Obwohl der Fußball vielleicht in allen Regionen der Welt die Massen verdummt und ihre revolutionäre Kraft fehlleitet, liebe ich ihn. Außerdem denke ich nicht, dass zum Beispiel eine bulgarische Krankenschwester, die am Wochenende ins Stadion geht, am Montagmorgen bereit ist, sich vom Krankenhausbetreiber ausnehmen zu lassen wie eine Weihnachtsgans.

Die Anbetung des Balles spendet uns Trost. Ist es ein falscher Trost in Anbetracht von Krieg und Unterdrückung, die uns im Jahr 2022 geißeln, als hätte sich der Mensch, seitdem er seine urzeitliche Höhle verlassen hat, nicht weiterentwickelt? Ja klar, äh nein, ich meine jein.

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