Winnetou als Flucht aus der Krisenrealität

Die Debatte über Karl May ist eine Form des Eskapismus, um sich mit der harschen Realität nicht auseinander setzen zu müssen, meint Natascha Strobl

  • Natascha Strobl
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist paradox: Während zwei von drei Haushalten in Deutschland am Ende des Jahres nicht mehr wissen werden, wie sie über die Runden kommen sollen, wird mit Leidenschaft diskutiert. Und zwar über Winnetou. In einem herbeiphantasierten Szenario geht die Geschichte so: Die woken Antirassist*innen sind die wahren Rassist*innen und canceln jetzt Winnetou. Das hat mit der Realität nur sehr peripher etwas zu tun.

Der Ravensburger Verlag hat ohne Druck oder Kampagne von außen beschlossen, ein Begleitbuch eines lose angelehnten Folgefilms der ursprünglichen Winnetou-Filme nicht herauszugeben, weil es den Standards nicht entsprochen hat. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte man hier eine Debatte darüber führen können, wie gut Winnetou (oder andere Kindheitsfilme) gealtert sind, und ob man dazu auch eine abgeklärtere Meinung hat als vor 30 Jahren. Unsere Gesellschaften stecken aber nun schon mehrere Schritte in der größten Krise der Nachkriegszeit. Es geht darum, ob und wer die nächsten Monate wie übersteht, welche Formen der Umverteilungen mit so Späßen wie der Gasumlage passieren und überhaupt wie es weitergehen soll. Die Winnetou-Debatte ist autoritärer Eskapismus, um sich mit der harschen Realität nicht auseinander setzen zu müssen. Oder vielmehr: um zu verhindern, dass sich andere damit auseinandersetzen.

Natascha Strobl
Natascha Strobl ist Politikwissenschaftlerin und Autorin aus Wien. Auf Twitter schreibt sie Ad Hoc-Analysen zu rechtsextremer Sprache und faschistischen Ideologien, für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Rechte Umtriebe«. Darin widmet sie sich der Neuen und Alten Rechten und allem, was sich rechts der sogenannten Mitte rumtreibt. Alle Texte auf dasnd.de/umtriebe.

So funktioniert der Kulturkampf: Er entfernt sich und die, die ihn ausfechten und die, die mitgerissen werden Stück für Stück von einer materiellen Realität. Betroffene (Linke oder marginalisierte Gruppen) müssen sich mit abstrusen Anwürfen auseinandersetzen und diese widerlegen. In dieser Widerlegung verstrickt man sich aber immer und immer mehr in der Kulturkampf-Logik. Nein, niemand möchte Winnetou canceln. Ja, es wird weiter im TV gezeigt werden. Nein, das ist keine akkurate Darstellung von irgendwas. Ja, Rassismus und Exotizismus spielen eine Rolle. Nein, es ist nichtmal in den Top 100 der wichtigsten Probleme gerade.

Kulturkampf bedeutet Ablenkung. Kulturkampf bedeutet aber auch emotionale Überwältigung. Die Winnetou-Causa ist hier das beste Beispiel. Es geht nicht nur um Winnetou an sich (die Wenigsten werden die Filme in den letzten zehn Jahren gesehen haben). Es geht um ein Stück Kindheit. Nostalgie ist gerade in Krisenzeiten ein starkes Gefühl. Zurück in eine Zeit der Normalität, der Einfachheit, der Geborgenheit und der Sicherheit. All das wird repräsentiert und als Waffe gegen die Realität genutzt. Autoritärer Eskapismus und Identitätspolitik. Im wahrsten Sinne des Wortes wird nämlich ein (völlig fiktionaler) Kampf um die eigene Identität gefochten, zu der beliebig Dinge, kulturelle Machwerke, Sprache usw. hinzugefügt und zentral gesetzt werden können. Heute ist es Winnetou und morgen wird mit der selben Verve etwas anderes verteidigt, das plötzlich zentral für die eigene und kollektive (europäische, weiße, abendländische, christliche, deutsche, was auch immer) Identität sein soll. Das ist armselig und bemitleidenswert, wäre es nicht so gefährlich in Zeiten wie diesen.

Umso wichtiger ist es, dass Linke sich auf das konzentrieren, was real ist und was gerade zählt: die schwerste Krise seit vielen Jahrzehnten. Es wird ernsthaft darüber diskutiert, wer wie heizen darf oder nicht. Supermärkte deckeln Preise. Es geht so nicht weiter. Genug ist genug. Es muss anders gehen. Der Kapitalismus ist am Ende. Und ohne linke Antwort auf das Danach endet es in Barbarei.

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