Auf der Suche nach dem Jüdischen

Wie Marcel Proust den Dreyfus-Prozess in Frankreich wahrnahm und sich zu seinem Judentum bekannte.

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Bekannt ist er vor allem durch seinen siebenbändigen Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, eine schwere, anspruchsvolle Lektüre. Sein Lebenswerk beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, es gibt über Marcel Proust wesentlich mehr zu berichten.

Der Schweizer Literaturkritiker Andreas Isenschmid machte sich auf die Suche nach »Proust und das Jüdische«. Die Recherche führte ihn mitten in die Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhundert in Frankreich, überschattet von einem erschreckend hasserfüllten Antisemitismus. Die aggressiven Ausbrüche damals dort erinnern an die wütende Hetze, Schmähungen und Drohungen des NS-Propagandisten Goebbels. Dem tausendstimmigen Chor von Judenhassern in Paris war der jüdische Offizier Alfred Dreyfus letztlich erlegen. Er wurde 1894 wegen angeblichen Landesverrats, Spionage für die Deutschen, degradiert und zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt. Die französische Gesellschaft wiederum war darüber entzweit, drohte zu zerreißen.

Isenschmid geht minutiös der Frage nach, wie viel Proust davon mitbekam, wie viel er in seinen zeitnahen Interventionen verarbeitet hat und wie viel in dessen berühmtestes Werk eingeflossen ist.

Marcel Proust hatte eine jüdische Mutter und einen katholischen Vater. Er war katholisch getauft, aber nicht gläubig. Isenschmid taucht tief in die Familiengeschichte ein, fördert zahlreiche Zeitschriftenartikel von Proust während und nach der Dreyfus-Affäre zutage und entdeckt ein ambivalentes Verhältnis seines Protagonisten zum Jüdischen: teils abwertende, teils bewundernde Passagen über das Judentum. Der Autor zitiert achtsam und ordnet akribisch ein. So entfaltet sich vor den Augen der Leser*innen ein schlüssiges Gesamtbild über einen Roman, in dem zwei der Hauptpersonen, Swann und Bloch, Juden sind und Marcel eben Marcel ist.

Isenschmid schreibt: »Das ist Prousts ›Recherche‹, dieser wohlgeformte Strom verzauberter und verzaubernder Einzelheiten, die sich aller begrifflichen Fixierung entziehen. Die Geschichte der Homosexuellen, welche die ›Recherche‹ erzählt, ist unendlich nuancierter und übrigens auch freudvoller als die Formel der race maudite. Und so ist auch die Geschichte der Juden in der ›Recherche‹ trotz einiger Holzschnitzereien ein Strom hochnuancierter ambivalenter Einzelheiten.«

Bevor Isenschmid seine glänzend geschriebene und spannend zu lesende Untersuchung schließt, fasst er noch einmal zusammen: »Denn wenn Prousts ›Recherche‹ auch aus schönsten, alle Abstraktionen unterlaufenden Einzelheiten besteht, so ist doch offenkundig, dass im Kreislauf dieser Einzelheiten, wie geheimnisumhüllt auch immer, doch stets ein jüdisches Herz mitschlägt. Man darf dieses Jüdische nicht zu deutlich benennen, doch vergessen wird es nie. Auch nicht in Prousts letzten Stunden.« Hierfür offeriert Isenschmid seinem Publikum einen letzten Zettel aus dem Sterbezimmer von Marcel Proust, auf dem steht: »Alle haben vergessen, dass ich jüdisch bin. Ich nicht.«

Andreas Isenschmid: Der Elefant im Raum – Proust und das Jüdische. Hanser, 240 S.,
geb., 26 €.

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