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»Ein komplett neues System«
Rima Barakat, Co-Vorsitzende des Justizrats in Nord- und Ostsyrien (NES), spricht über das einzigartige Justizsystem in Rojava
Die Revolution in Rojava ereignete sich vor zehn Jahren. Wie haben Sie das damals erlebt?
Vor zehn Jahren kontrollierte das Regime von Baschar Al-Assad ganz Syrien. Lokale Traditionen, Religionen, verschiedene Sprachen und Unterschiede zwischen den Menschen wurden nicht anerkannt. Unter dem Regime lautete der Slogan: »Ein Volk. Eine Regierung.« Alles war zentralistisch und hierarchisch geregelt – und alles war arabisch. Dabei leben in Nordostsyrien viele ethnische Gruppen: Kurden, Araber, Syrer, Armenier. Die Menschen waren nicht frei und konnten sich nicht politisch engagieren. Auch das Justizsystem diente nur dem Wohle des Regimes, daher mussten wir mit der Revolution 2012 ein komplett neues System aufbauen. Zunächst ging es darum, die Rechte aller ethnischer Gruppen zu berücksichtigen. Zudem mussten wir mit den bisherigen Vorstellungen brechen. Das Regime kontrollierte alles von oben. Wir versuchten, ein Justizsystem aufzubauen, das auf der demokratischen Beteiligung der Menschen beruht. Jede rechtliche Entscheidung und jedes neue Gesetz wollen wir mit der Bevölkerung diskutieren. Wir haben daher kein neues Justizministerium geschaffen, das nur wieder einen neuen Staat bedeutet hätte, sondern folgen den Vorstellungen einer »sozialen Gerechtigkeit«.
Die Kurdin Rima Barakat und der Araber Hassal Ahmed sind die beiden Co-Vorsitzenden des Justizrats in Nord- und Ostsyrien (NES). Der Justizrat (Meclîsa Edalet) besteht aus 16 Personen und verwaltet die Arbeit der lokalen Justizräte, erörtert Leitsätze und arbeitet an der Koordinierung der Justizsysteme aller Regionen in NES. In Qamischli sprach Christopher Wimmer mit Rima Barakat.
Wie sieht das Justizsystem in Rojava aus?
Wir haben ein zweigliedriges System, das aus gesellschaftlicher und gerichtlicher Konfliktlösung besteht. Sehr wichtig sind unsere Friedenskomitees, die versuchen, Streitigkeiten und Probleme in der Gesellschaft vor Ort selbst zu lösen. Die Komitees werden von der lokalen Bevölkerung gewählt und existieren in jedem Dorf und in jedem Stadtviertel. Nur wenn die Komitees einen Konflikt nicht lösen können, wird ein Gericht angerufen. 85 Prozent aller Fälle werden von den Friedenskomitees gelöst, nur 15 Prozent gehen vor Gericht. Sie werden also innerhalb der Gesellschaft sehr gut akzeptiert. Parallel dazu gibt es auch noch Räte und Komitees nur für Frauen, die sich mit Problemen befassen, mit denen Frauen konfrontiert sind, z. B. Zwangs- oder Kinderheirat oder Missbrauch. Sie unterstützen Frauen auch vor Gericht und spielen allgemein eine wichtige Rolle im Justizsystem in Nord- und Ostsyrien.
Woher kommt die Idee der Friedenskomitees?
Die Komitees haben eine lange Tradition, insbesondere in der kurdischen Gesellschaft, die lange in Stämmen organisiert war. Menschen, die innerhalb eines Stammes respektiert wurden und denen in der Gesellschaft vertraut wurde, wurden gewählt, um Probleme zu lösen. Auch jetzt noch wählt die Gesellschaft Menschen, um Probleme selbst zu lösen.
Wie kann man sich die Arbeit der Friedenskomitees vorstellen?
Wenn eine Partei ein Problem mit einer anderen Partei hat, bringt sie das Komitee zusammen und fragt nach Hintergründen, Beweggründen und Zusammenhängen. Dann diskutiert das Komitee, fragt nach und teilt einen Lösungsvorschlag mit. Sind beide Parteien damit einverstanden, müssen sie einen Vertrag unterschreiben, der dann von einem Gericht bestätigt wird. Ziel ist, dass beide Parteien zufrieden mit dem Schiedsspruch sind. Normalerweise lösen die Komitees Probleme innerhalb von ein oder zwei Wochen. Da in den Komitees keine Anwälte nötig sind, ist es für ärmere Menschen leichter, sich an die Komitees zu wenden. Ein Gerichtsverfahren kann sehr lange dauern und ist sehr teuer. Die Mitglieder der Friedenskomitees arbeiten ehrenamtlich.
Erhalten die Mitglieder der Komitees eine spezielle Ausbildung?
Es gibt eine Schulung von 45 Tagen. Aber normalerweise brauchen die Leute, die in den Komitees sind, keine Schulung. Sie sind in die Komitees gewählt worden, weil sie von der Gesellschaft respektiert und geschätzt werden – das ist Ausbildung genug.
Wie handhaben die Komitees Kapitalverbrechen wie Vergewaltigung oder Mord?
Die Friedenskomitees sind nur für zivile Probleme zuständig. Schwere Straftaten müssen vor Gericht von ausgebildeten Richtern verhandelt werden. Die Komitees haben dort jedoch eine beratende Stimme. Somit kann sich auch hier die Gesellschaft einbringen.
Das Justizsystem sieht auch Gefängnisstrafen vor. Welche Rolle spielen Gefängnisse?
Wir sind der Meinung, dass Gefängnisse Menschen nicht einfach wegsperren sollen. Das Gefängnis soll ein Ort sein, in dem Menschen darüber nachdenken können, was sie getan haben. Viele Gefangene können auch nicht lesen und schreiben, also unterrichten wir sie. Wir haben auch ein Ausbildungssystem in den Gefängnissen, dass Freigelassene sofort gute Arbeit finden und wieder Teil der Gesellschaft werden können.
Derzeit wird in Nordostsyrien ein neuer Gesellschaftsvertrag, eine Art Verfassung, diskutiert. Wird es dazu Wahlen oder ein Referendum geben?
Der Vertragsentwurf wurde bei zahlreichen Veranstaltungen sehr intensiv diskutiert mit der Bevölkerung, die ihre Kritik einbringen konnte. Wir haben diese Vorschläge aufgegriffen und diskutieren sie gerade. Da der Gesellschaftsvertrag gerade nur für Nordostsyrien gilt, werden wir ihn nicht durch Wahlen fixieren. Wir wollen eine Lösung für ganz Syrien, und solange nicht alle Menschen im Land die Möglichkeit haben, frei darüber abzustimmen, werden wir keine Wahlen abhalten.
Wie sehen Sie die Zukunft von Rojava?
Für eine Revolution sind zehn Jahre eine kurze Zeit, dafür waren wir aber schon recht erfolgreich. Der wohl wichtigste Erfolg der Revolution ist der Schutz der Rechte der Frauen. Selbst das Assad-Regime musste frauenfeindliche Gesetze ändern – wegen unseres Einflusses. Das Hauptproblem ist jedoch die fehlende politische Stabilität in der Region und die dauernde Kriegsgefahr durch die Türkei.
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