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Umweltschutz als soziale Frage
Schlechte Luft, viel Verkehr, wenig Grün: Im Friedrichshainer Nordkiez wird deutlich, wie Klima und Gerechtigkeit zusammenhängen
Am Frankfurter Tor in Friedrichshain herrschen am Mittag geschäftiges Treiben und eine Geräuschkulisse aus Stimmengewirr und Verkehrslärm. Ununterbrochen fahren Autos durch die Frankfurter Allee, bremsen an der Ampel ab, fahren wieder an. Sie ist »eine der größten Straßen und eines der belastetsten Gebiete Berlins«, sagt Vasili Franco, Mitglied der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Der nördlich der Frankfurter Allee beginnende Friedrichshainer Nord- oder Samariterkiez ist sein Wahlkreis. »Ich liebe diesen Kiez, aber er könnte natürlich noch schöner sein«, sagt er mit Blick auf die mehrspurige Straße.
Im August haben Senatsumwelt- und -stadtentwicklungsverwaltung sowie das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg den neuen Umweltgerechtigkeitsatlas für Berlin herausgegeben, der die Verteilung gesundheitsschädlicher Umweltbelastungen im Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung verschiedener Wohngegenden untersucht. »Für den Nordkiez zeigt sich ein wenig überraschendes Bild. Hohe Belastung an Schadstoffen und wenig Grün«, teilte Franco daraufhin über die sozialen Medien mit. Für den Umweltgerechtigkeitsatlas wurden vier Kernindikatoren festgelegt, die die Gesundheit von Anwohner*innen nachweislich beeinträchtigen. An der Frankfurter Allee werden alle vier sichtbar: Lärm-Messwerte von tagsüber bis zu 75 und nachts bis zu 70 Dezibel, schlechte Luft, extreme Wärmeinseln im Sommer und lediglich ein schmaler entsiegelter Grünstreifen.
Dementsprechend erhielt der Friedrichshainer Nordkiez im Umweltgerechtigkeitsatlas für die Faktoren Luftverschmutzung, thermische Belastung (Hitze) und mangelnde Grünflächenversorgung jeweils drei von drei Minuspunkten. Damit fällt die Gegend in die Kategorie »dreifachbelastet«, während insgesamt knapp 85 Prozent der Berliner*innen in maximal zweifach belasteten Planungsräumen leben. Für den Lärm gab es hier nur einen Punkt, doch da der Planungsraum nicht die gesamte Frankfurter Allee umfasst, sei die Belastung hier nicht adäquat abgebildet, meint Vasili Franco. Wenn es nach dem jungen Grünen-Politiker ginge, sollte die Frankfurter Allee zur Tempo-30-Zone werden, um sowohl Lärm als auch Luftverschmutzung zu reduzieren, Parkplätze abgebaut, entsiegelt und stärker begrünt werden. »Aber man muss Maßnahmen immer viel zu aufwendig begründen, erst recht, wenn man dem Auto was wegnehmen will«, bedauert er.
Was die soziale Benachteiligung angeht, erhielt der Nordkiez zwei von drei Punkten. Noch gebe es hier eine gute soziale Mischung, aber eben auch viel Zuzug und Gentrifizierung. Längst lägen die Quadratmeterpreise für Mietwohnungen bei über 15 Euro. An stark belasteten Hauptverkehrsstraßen wie der Frankfurter Allee würden die Mieten nicht ganz so schnell steigen, dennoch müsse gerade dort, wo die Lärm- und Luftbelastung besonders hoch sind, umgestaltet werden. »Ein gesundes Wohnumfeld sollte keine Frage des Geldbeutels sein«, findet Franco.
Laut ihrem Koalitionsvertrag verfolgt die rot-grün-rote Berliner Regierung »das Ziel, bis zum Ende der Wahlperiode die vielfach belasteten Gebiete zu reduzieren«. Auf nd-Anfrage nennt Sara Lühmann, Sprecherin der Senatsumweltverwaltung, zu diesem Zweck eine Vielzahl an Förderprogrammen und Maßnahmen wie Regenwassermanagement, Straßenbaumpflanzungen, Hof-, Fassaden- und Dachbegrünungen. Letzteres »kann an Gebäuden auch den Energieaufwand reduzieren und die Aufenthaltsqualität verbessern«, so Lühmann. Energetische Sanierungen und klimafreundliche Mobilität sollen vorangetrieben werden, außerdem gebe es einen Lärmaktions- und einen Luftreinhalteplan. Sozialräumliche Benachteiligung finde sich vor allem in dichter besiedelten Bereichen und solle daher über Freiraum- und Landschaftsplanung reduziert werden.
Danny Freymark, Sprecher für Umweltschutz der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, stellt der Regierung in dieser Hinsicht jedoch ein schlechtes Zeugnis aus. »Seit Jahren« lege der Senat den Umweltgerechtigkeitsatlas vor – seit 2019 – und noch immer fehle es an Grünflächen und Bäumen. »Es braucht mehr Tempo und Leidenschaft für die Entsiegelungen von betonierten Flächen, für ein besseres Regenwassermanagement sowie der Dach- und Fassadenbegrünung«, fordert Freymark.
Dicht besiedelt und wenig begrünt ist auch der Samariterkiez. Der Forckenbeckplatz ist der einzige Park in diesem Planungsraum. Insgesamt kommen hier auf eine*n Einwohner*in nur 2,6 Quadratmeter Grünfläche, in ganz Berlin sind es 16,2 Quadratmeter. »Das Bedürfnis der Anwohner*innen nach mehr Grün ist riesig«, berichtet Franco. Es sei eine junge Wohngegend mit vielen Kindern, auch Spielplätze seien wichtig. Ihm schwebt vor, auch hier die Parkplätze rauszuwerfen und den Forckenbeckpark bis über die südlich angrenzende Bänschstraße zu erweitern. Einige Straßen, wie die Rigaer, seien bereits Fahrradstraßen, die jedoch für Autos von Anwohner*innen freigegeben sind. Das langfristige Ziel sei ein komplett autofreier Kiez.
In einem ersten Schritt bräuchte es eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung, aber auch das Anwohnerparken sollte teurer und der Durchgangsverkehr für Autos durch Kiezblocker und vorgegebene Verkehrsrichtungen so unattraktiv wie möglich werden. Sicherlich seien nicht alle Anwohner*innen gleich von solchen Maßnahmen überzeugt. Doch Vasili Franco setzt hier auf Beteiligung und Kooperation mit der Zivilgesellschaft. Dafür gebe es im Samariterkiez bereits gute Beispiele wie die Nachbarschaftsinitiative Greenkiez, die sich ehrenamtlich um eine insektenfreundliche Bepflanzung der Straßen kümmert, unter anderem um die Bänschpromenade. Nur 500 Meter von der Frankfurter Allee entfernt erscheint die Straße zwischen Forckenbeckplatz und Samariterkirche als kleine Oase: ein breiter grüner Mittelstreifen mit Bänken, auf dem Eltern mit Kindern und Punks mit Hunden spazieren. Statt Autolärm ist Vogelgezwitscher zu hören.
Der Platz vor der Samariterkirche wurde durch Poller bereits für Autodurchfahrten gesperrt, stattdessen sei hier nun Platz für Straßenfeste oder Tauschmärkte. »Das hat auch einen sozialen Aspekt«, findet Franco und es sei ein gutes Beispiel dafür, dass kleine Maßnahmen schon viel verändern können. Ein Weiteres ist die Waldeyerstraße. Ein Teil der Straße, entlang des Schleidenplatzes, wurde auf Initiative von Anwohner*innen zur Fußgängerzone umgewandelt, es gibt Poller, Fahrradbügel, Bänke, einen Spielplatz und ein Eiscafé. Nun solle noch weiter entsiegelt werden, außerdem setze die Bezirksverordnetenversammlung sich dafür ein, dass die öffentliche Toilette am Platz zukünftig kostenlos nutzbar ist. Auch die Senatssozialverwaltung fördert Nachbarschafts- und Selbsthilfearbeit, in deren Rahmen es zu »umweltbezogenen Aktivitäten« kommen kann, wie Sara Lühmann von der Umweltverwaltung erklärt.
Das Problem von Verkehrsberuhigung und Begrünung: Beides macht den Kiez lebenswerter, treibt aber auch die Gentrifizierung voran. Genau das geht aus dem Umweltgerechtigkeitsatlas hervor: »Oft fallen soziale Benachteiligung und ein Umfeld mit ungünstigeren Umweltbedingungen zusammen. So sind sozial Schwächere nicht selten auch stärkeren Umweltbelastungen ausgesetzt, in ihrer Gesundheit erheblich mehr gefährdet und somit in mehrerlei Hinsicht benachteiligt«, heißt es darin. Vasili Franco schlussfolgert, dass »Klimaschutz nicht nur eine Frage für Leute ist, die es sich leisten können, sondern auch eine soziale Frage«. Gerade Menschen mit niedrigem Einkommen seien auf öffentliche Erholungsflächen angewiesen, da sie oft nicht mal einen Balkon haben.
Letztendlich lasse die Klimakrise ohnehin keine Wahl: »Wir müssen die Stadt umbauen, wir brauchen mehr Bäume, dafür müssen die Autos raus«, hält Franco fest. Klima und Soziales dürfe in Nutzungskonflikten wie denen zwischen Parkplätzen und Grünflächen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Der Abstellplatz für einen »Blechhaufen« sei schließlich nur für eine*n gut, eine öffentliche Toilette an derselben Stelle dagegen für alle. Die Wohnungskrise könne nur mit einem »vernünftigen Mietengesetz« bekämpft werden, sagt Vasili Franco. Ziel der Berliner Grünen sei daher, mindestens 50 Prozent des Wohnraums in gemeinwohlorientierte Hand und das Vorkaufrechtsrecht zurückzuholen.
In dieser Hinsicht hätte die Politik in den vergangenen Jahrzehnten viel »Mist gebaut«, verweist der 30-Jährige auf die Generationen vor ihm. Wenn es ums Klima geht, rede man viel über Zahlen und einige sich zu wenig auf Maßnahmen. »Manchmal verzweifle ich selbst an der Realität. Die Welt geht unter und wir müssten schneller und radikaler handeln«, gibt er zu. Das sei schon mal frustrierend, aber auch ein Ansporn, um Berlin unter Beteiligung der Bürger*innen und Nachbarschaftsinitiativen zu einer schöneren, grüneren und umweltgerechteren Stadt weiterzuentwickeln.
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