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  • Deutsch-polnische Beziehungen

Geschichte, die nicht vergeht

Polen diskutiert kontrovers über die Frage, ob von Deutschland Reparationen gefordert werden sollten

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.

Die junge Frau ist kaum zu beruhigen. Mit einer Hand hält sie ihren Kinderwagen fest, die andere umklammert ein Gitter an der Rückseite des Grabmals des Unbekannten Soldaten in der Warschauer Innenstadt. »Niemcy nie zapłacili«, ruft sie immer wieder. Übersetzt bedeutet das: »Die Deutschen haben nicht gezahlt.« Vor wenigen Minuten sind auf dem Platz vor dem Grabmal die letzten Töne der deutschen Nationalhymne verklungen, die von der Kapelle des Ehrenbataillons der polnischen Armee gespielt wurde. Anlass ist der Besuch Bodo Ramelows, der nicht nur Ministerpräsident von Thüringen, sondern zurzeit auch Präsident des Bundesrats ist. Der Linke-Politiker legt an diesem warmen Septembernachmittag gemeinsam mit dem Marschall des polnischen Senats, Tomasz Grodzki, einen Kranz am Grabmal nieder. Hier wird der polnischen Soldaten gedacht, die in früheren Kriegen starben.

An diesem symbolischen Ort finden nicht nur wichtige staatliche Feierlichkeiten statt, sondern Vertreter des polnischen Staates zeigen hier auch ihre Verbundenheit mit Politikern anderer Länder. Doch die Geste von Ramelow und Grodzki kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um die deutsch-polnischen Beziehungen derzeit nicht zum besten bestellt ist. Umfragen zeigen, dass die knappe Mehrheit der Polen eine ähnliche Meinung vertritt wie die wütende junge Frau mit dem Kinderwagen, die von Passanten beschwichtigt werden muss. Sie meinen, dass die Bundesrepublik ihnen wegen der Gräuel im Zweiten Weltkrieg etwas schuldig sei.

In Polen wird das Thema wieder einmal kontrovers diskutiert, seit die nationalkonservative Regierungspartei PiS am 1. September, dem Jahrestag des deutschen Überfalls 1939, eine Studie präsentierte, die besagt, dass Polen ein Anrecht auf deutsche Reparationszahlungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro habe. Einen Eindruck davon, welches Leid die Nazischergen über das Land gebracht hatten, bekommt man nicht nur in den Gedenkstätten früherer Konzentrationslager, sondern auch in Warschau. Weite Teile der Stadt wurden während des Aufstands im jüdischen Ghetto 1943 und ein Jahr später bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands zerstört, zahlreiche Einwohner dabei ermordet. Die Altstadt wurde rekonstruiert, woanders zeugen Bauten des sozialistischen Klassizismus von der Nachkriegszeit, zwischen Wohnblöcken befinden sich noch Überreste der Mauer des einstigen Ghettos.

Doch geht es der PiS, die im Hintergrund vom früheren Ministerpräsidenten Jarosław Kaczyński gelenkt wird und die mit Mateusz Morawiecki den Regierungschef stellt, wirklich um Gerechtigkeit? Dariusz Adamczyk bezweifelt das. Der Geschichtswissenschaftler arbeitet am Deutschen Historischen Institut in Warschau. Er wirft den Autoren der von der PiS präsentierten Studie vor, dass ihre »Methodik nicht ganz klar und die genannte Summe ziemlich beliebig« sei. »Die Funktion dieser Reparationsforderungen soll eher nach innen wirken, um das Thema beliebig ausspielen und gegen Deutschland hetzen zu können«, sagt Adamczyk dem »nd«.

Damit spielt er auf die Parlamentswahlen im Herbst kommenden Jahres an. Der frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk, der heute Vorsitzender der liberal-konservativen Bürgerplattform PO ist, hat sich von den Forderungen der PiS distanziert. Fraglich ist, ob Oppositionspolitiker bei dieser Haltung bleiben. »Die Opposition befindet sich in einer schwierigen Lage. Wenn sie die Forderungen unterstützt, läuft sie Gefahr, sich auf eine Ebene mit der PiS zu stellen«, meint Adamczyk. »Lehnt sie sie hingegen ab, wird ihr seitens der PiS Verrat vorgeworfen. Das Ausmaß der Polarisierung hat Dimensionen erreicht, wo jede vernünftige Diskussion mittlerweile unmöglich ist.« Angesichts der Stimmung in der polnischen Gesellschaft ist es laut Adamczyk nicht auszuschließen, »dass die eine oder andere Partei rumeiern und aus wahltaktischen Gründen auf PiS-Positionen umschwenken wird«.

Auch der Warschauer Bürgermeister und Parteikollege von Tusk, Rafał Trzaskowski, spricht von einer »Falle für die Opposition«. Darüber hinaus suche die PiS neue Feindbilder. Erst hätten Flüchtlinge dafür herhalten müssen, dann LGBT-Menschen, und nun sei die Bundesrepublik dran, sagt Trzaskowski. Es liegt nahe, dass die PiS ein Thema braucht, das bei den Wählern zieht. 2019 erreichte sie bei der Wahl noch 43,6 Prozent, nun könnte sie laut Umfragen auf etwa 34 Prozent absacken. Die Bürgerplattform liegt in einem Bündnis mit Grünen und Neoliberalen fünf Prozentpunkte dahinter.

Dass die PiS mit ihrer Kampagne Erfolg bei den Wählern haben könnte, liegt freilich auch an dem Verhalten deutscher Spitzenpolitiker in der Vergangenheit. Die Bundesregierung unter Führung von Kanzler Helmut Kohl wollte in den Wendejahren 1989/90 einen Friedensvertrag vermeiden, um keine Reparationsforderungen von Polen und anderen Staaten fürchten zu müssen. Bei den damaligen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war die Warschauer Regierung zwar dabei, als es um die Grenzfragen ging, aber nicht als gleichberechtigter Teilnehmer bei allen Gesprächen. In Polen fühlen sich auch deswegen viele Nachkommen der Opfer ignoriert.

Die Reparationsfrage ist auch Thema bei dem Gespräch, das Ramelow mit Vertretern des polnischen Senats führt. »Mir wurde signalisiert, dass wir uns als Deutsche – ebenso wie gegenüber dem Staat Israel – auch Polen gegenüber zu dieser historischen Verantwortung viel deutlicher artikulieren müssen«, sagt der Ministerpräsident am Rande des Besuchs dem »nd«. Er betont aber auch, dass es für ihn immer wieder ein Wunder sei, mit welcher Freundlichkeit man als Deutscher in Polen begrüßt werde angesichts der Vernichtung von Warschau und der Tötung von sechs Millionen Menschen durch die deutsche Kriegsmaschinerie. »Klug wäre es, mehr Zukunftsthemen gemeinsam zwischen Polen und Deutschland herauszuarbeiten und gemeinsam auf den Weg zu bringen. Ein Zukunftsfonds wäre ein guter Schritt. Allerdings bleibt es richtig und wichtig, wenn Deutschland offene Ohren hat, wenn es um individuelles Leid geht«, fordert Ramelow.

Die Bundesregierung sieht keinen Anlass, über Reparationen zu reden. Dagegen meint die PiS, dass der Verzicht der polnischen Regierung von 1953 völkerrechtlich unwirksam sei, weil sie damals von der Sowjetunion abhängig war. Dem widerspricht Adamczyk. »Zwischen dem Polen von 1953 und jenem von heute bestehen Kontinuitäten. Außerdem haben verschiedene polnische Regierungen ab 1990 auf jegliche Reparationen verzichtet.« Folglich kann der Historiker die Haltung der Bundesregierung nachvollziehen. »Nach meiner Kenntnis ist die Frage der Reparationen juristisch abgeschlossen.«

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