- Kultur
- Theaterstück »Kinder der Sonne«
Keine klassenkämpferische Gesinnung
Maxim Gorkis »Kinder der Sonne« am Hans-Otto-Theater in Potsdam
Im Zuge des Angriffs auf die Ukraine irrte die Frage durch die deutsche Kulturlandschaft, wie man mit russischen Kulturgütern umgehen solle. Die Antwort fiel zumeist eindeutig aus. Während einzelne Künstler aufgrund ihrer Nähe zum russischen Regime geschasst wurden, gab in Bezug auf die Klassiker Claudia Roth die Linie vor: »Ich lasse mir doch den Tschechow nicht von Putin wegnehmen!« Die Pronomen in der Aussage der Kulturstaatsministerin begründen ihre Absage an jeden Boykott. Der Tschechow ist nicht eigentlich ein Russe, sondern in Wahrheit »mein« oder »unser aller Tschechow«, also ein Literaturgut im universalistischen Sinne, das dem gehört, der es zu lesen und lieben versteht, wozu die deutschen Theaterleute und Zuschauer ein besonderes Talent zu besitzen scheinen.
Eine solche Perspektive, deren Glück darin besteht, ihren Gegenstand ganz unpolitisch zu betrachten, fällt bei Maxim Gorki freilich schwerer, ist den meisten seiner Stücke doch ein propagandistisches Motiv eingeschrieben. Sie verhandeln die sozialen Verwerfungen in der russischen Gesellschaft um die Jahrhundertwende und führen immer wieder die Dekadenz und Blindheit der Mittel- und Oberschicht vor. Der überzeugte Kommunist ließ sich auch gerne von Stalin umgarnen und für dessen Personenkult einspannen. Das wäre kein Grund, ihn heute nicht mehr zu spielen, allerdings bereitet die spezifisch politische Verortung seiner Stücke doch jeder zeitgenössischen Inszenierung ein ästhetisches Problem. Die Regie steht in der Pflicht, die revolutionäre Brisanz zu einem Konflikt der Gegenwart in Bezug zu setzen, da die Aufführung sonst zwangsläufig zum archivarischen Akt verkommen muss.
Bettina Jahnke, Intendantin des Hans-Otto-Theaters, hat in den Corona-Protesten einen Anlass gefunden, Gorkis »Kinder der Sonne« zu Aktualität zu verhelfen. Im Original heizt eine Cholera-Pandemie die Konflikte zwischen Volk und Bürgertum, zwischen Dienern und Bediensteten an. Eine Meute aus verdreckten Handwerkern und Dienstmädchen stampft am Ende in das schöne Haus des Chemikers Protassow, in dem die gute Gesellschaft zusammenkommt, um sich unglücklich zu verlieben, sich zu missachten und Reden zu schwingen, in jedem Falle aber sich gegenseitig zu versichern, dass die eigenen Belange die einzigen der Weltgeschichte sind. Nun stehen sie jenen gegenüber, die sie die längste Zeit ignorieren durften. Mit Löffeln schlägt der Pöbel auf Kochtöpfe ein, blickt finster, fordert den Kopf Protassows, der ihrer Ansicht nach irgendetwas mit der Cholera zu tun, sie entweder ausgelöst oder erfunden hat. So ganz klar wird der Vorwurf nicht, er ist hier – ebenso wie im Original – nur ein Anlass, den Spieß endlich umzudrehen.
So weit mag man Jahnke noch gerne folgen, doch für das Kernanliegen des Stücks findet sie in ihrer zweieinhalbstündigen Inszenierung keine Übersetzung. Wenn Gorki sein Personal in zwei Gruppen aufteilte, die da unten und die da oben, war dafür im Jahr 1905 nicht unbedingt eine klassenkämpferische Gesinnung vonnöten, wenngleich sie zweifellos das Projekt motivierte. Ein solches Schema mehr als hundert Jahre später zu bemühen, wirkt hingegen undifferenziert. In den Corona-Protesten hat sich keine ökonomisch oder politisch unterrepräsentierte Klasse zu Wort gemeldet, selbst die Einordnung in ein politisches Spektrum fällt schwer. Der Inszenierung haftet so eine gewisse Genügsamkeit an. Die heutigen Verhältnisse fügen sich in ihr zu einem stimmigen Ganzen, freilich zum Preis einer erheblichen Vereinfachung der Lage.
Es sind die Schauspieler, die das Unternehmen dennoch retten. In erster Linie Philipp Mauritz. Sein Protassow ist ein begeisterter Chemiker, der am liebsten nur immerzu an seinen Versuchen arbeiten würde und weder an einer ökonomischen Verwertung seiner Kenntnisse noch an seinen nächsten Mitmenschen ein größeres Interesse zeigt. Immer wieder klettert er an einem Metallgerüst hoch, das an das Periodensystem erinnert, um Formeln auf Schieferflächen zu zeichnen. Seine Welt ist die Wissenschaft, seine Sprache zu abstrakt, um jene verstehen zu können, die ihm mit menschlichen Belangen kommen. Seine Gattin (Kristin Muthwill) weiß sich in einer Szene nicht mehr anders zu wehren, als sich mit den gesamten Küchenvorräten vollzustopfen. Nadine Nollaus Melanija geht es nicht besser. Sie verehrt Protassow, gesteht ihm in einer hochkomischen Szene ihre Liebe, legt ihm ihr Vermögen und ihr ganzes Leben zu Füßen, derweil Mauritz sie nur verständnislos anstarrt. Jene Ignoranz, die auf der politischen Ebene den Aufstand herbeiführt, fordert auch innerhalb der wohlhabenden Schicht ihren Tribut, sie führt auf sehr unterhaltsame Weise zu Leid und Verwerfungen. Der Bezug zum größeren politischen Thema des Stücks mag in Potsdam also verloren gegangen sein, doch immerhin klopfen die Herzen hier im Takt der Revolte.
Weitere Vorstellungen: 23.9., 24.9., 8.10., 28.10., 29.10. www.hansottotheater.de
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