Zeiten des Zerfalls

Die Generaldebatte der Vereinten Nationen tagt zu einer Zeit, in der die Weltordnung von Konflikten und Krisen bedroht wird

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 5 Min.

UN-Generalsekretär Guterres eröffnet am Dienstag die Redereihe und bediente sich einer ähnlich düsteren Rhetorik wie Annan zwei Jahrzehnte zuvor. Der portugiesische Politiker warnte zum Auftakt vor einer Verschärfung der internationalen Krisen und vor einem »Winter des weltweiten Unmuts«. Die internationalen Beziehungen drifteten immer mehr in Polarisierung ab, die Spannungen zwischen Westen und Süden nähmen zu. Über all dem lägen die Bedrohungen der Klimakrise: »Die Welt ist nicht bereit, diese dramatischen Herausforderungen anzugehen«, erklärt er. Es müsse aber allen Staaten klar sein, dass sie allein nichts bewirken könnten: »Wir stehen vor einem Rendezvous mit dem Klimadesaster«.

Die 77. UN-Generaldebatte steht natürlich im Schatten des Krieges in der Ukraine, flankiert von der sich zuspitzenden Nahrungsmittelkrise, der Inflation und allen anderen brennenden Problemen unserer Zeit. Die Generaldebatte wurde von der Teilmobilmachung überschattet, die zwischenzeitlich in Russland ausgerufen wurde und schon am Mittwoch durch die Einberufung kampferprobter Reservisten begann. Bundeskanzler Scholz, der zum ersten Mal in seinem Leben nach New York gereist war, warf dem russischen Präsidenten Wladimir Putin »blanken Imperialismus « vor und orientierte sich dabei an Emmanuel Macron. Jenseits des Rheins sind die Franzosen sicherlich die weit profunderen Denker, wenn es um die Bereiche Geopolitik und historische Perspektiven geht. Gerade im direkten Vergleich zu den Deutschen, wo es im politischen Berlin nicht nur an Kompetenz fehlt, sondern auch ein geistiges Vakuum sichtbar wird. Präsident Macron äußerte schon in früheren Zeiten, als er analysierte, dass Amerika eine andere Sicht auf die Welt und eine andere Geografie habe, was bedeuten kann, dass unsere westlichen Interessen nicht übereinstimmen. Daraus folgt, dass unsere Beziehungen mit den Nachbarstaaten in Afrika, in der Levante, mit Russland, nicht die Nachbarschaftspolitik der USA darstellen, weshalb die internationalen Beziehungen Europas nicht ausschließlich und einseitig im Schlepptau Amerikas definiert werden können und dürfen. Für die politische Führung in Berlin, wo transatlantisches Denken eine Art Ersatzreligion verkörpert, klangen diese Worte lange Zeit wie Blasphemie. Doch jetzt kam es teilweise zu Überschneidungen in den Redebeiträgen der beiden Staatsmänner aus Paris und Berlin.

Macron definierte in seiner Ansprache den russischen Einmarsch in der Ukraine als ein »Wiederaufleben des Imperialismus«. »Das, was wir seit dem 24. Februar erleben, ist eine Rückkehr zur Zeit der Imperialismen und der Kolonien«, äußerte der französische Präsident am Dienstag in New York. Zahlreiche Delegierte aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs und Staaten, die häufig Schauplatz französischer Interventionen waren, haben diese Äußerungen sicherlich mit Interesse und großer Verwunderung vernommen, vielleicht auch mit Erstaunen. Der aktuelle Imperialismus sei nicht europäisch und nicht westlich, führte Macron aus. »Er nimmt die Form einer territorialen Invasion an, angelehnt an einen hybriden und globalisierten Krieg, der den Energiepreis, die Lebensmittelsicherheit, die Atomsicherheit, den Zugang zu Informationen und die Bewegungen der Bevölkerung als Waffen der Spaltung und der Zerstörung verwendet.« Deshalb greife der Krieg die Souveränität aller an. Aber Macron betonte zum Abschluss seiner Rede, dass Frankreich nach Frieden strebe und deshalb auch weiterhin mit Russland den Dialog suche. Diese Worte waren ideologisch wiederum weit entfernt von denen der deutschen Außenministerin Baerbock. Die Politikerin, die diplomatische Initiativen zu Gunsten von Waffenlieferungen beiseite schiebt, warf Russland eine Verhöhnung der UN und des Völkerrechts vor.

Bei der Vollversammlung handelt es sich um das zentrale Beratungsorgan der Vereinten Nationen – eine Art UN-Parlament. Alle 193 Mitgliedsstaaten sind darin vertreten. Dieses Gremium wählt unter anderem die nicht-ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und ernennt auf dessen Empfehlung den UN-Generalsekretär. Jeder Mitgliedsstaat hat je eine Stimme. Die Vollversammlung kann auch aktiv werden, wenn der Sicherheitsrat durch das Veto eines ständigen Mitglieds blockiert ist, kann im Gegensatz zum Rat aber keine Sanktionen verhängen kann. Von Haushaltsfragen abgesehen sind Resolutionen der Vollversammlung völkerrechtlich nicht bindend.

Die Sitzungsperiode der Vollversammlung beginnt jedes Jahr im September – und unmittelbar danach steht der Höhepunkt an, nämlich die Generaldebatte selbst.Rund eine Woche lang legen alle Staaten – in den meisten Fällen vertreten durch ihre Staats- oder Regierungschefs – ihre Vorstellungen von der Lösung der wichtigsten Probleme der Welt dar.

Die 1945 beschlossene UN-Charta enthält unter anderem Verpflichtungen zur Kooperation für wirtschaftliche Entwicklung und sozialen Fortschritt sowie zur Beachtung der Menschenrechte. 1948 wurden diese in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben. In der komplexen, multipolaren Welt unserer Tage könnte die UNO wenigstens punktuell Chancen besitzen, den anhaltenden Konflikten und Krisen mit robusten Mandaten zu begegnen. Die UNO hat prinzipiell kein Durchsetzungsrecht gegenüber Einzelstaaten. Das an sich wäre kein Problem, sie darf aber auch nicht zum Spielball werden von Staaten und Mächten, sondern kann nur als eine unabhängige Instanz als eigenes Machtzentrum ihrer Aufgabe gerecht werden. In Zeiten von Krisen und Konflikten sind Staaten vor allem an sich selbst interessiert, was die Existenz supranationaler Organisationen schwächt. Letztere sind ohne die Staatssubjekte nichts, da sie in einer von Nationalstaaten dominierten Welt keinerlei eigenen Wirkmöglichkeiten besitzen. Die aktuelle Generaldebatte ist diesbezüglich verbesserungswürdig.

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