- Politik
- Prozess gegen Antifaschisten in Dresden
Die Kreise des Kronzeugen
Szeneaussteiger belastet Gruppe um Lina E. vor Gericht in Dresden schwer
Eines Tages im März standen sie vor dem Warschauer Kindergarten, als der Erzieher Johannes D. früher Dienstschluss hatte: Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz, die sich mit ihm unterhalten wollten. D. gehörte lange der militanten linken Szene in Leipzig an und war Teil einer Gruppe, die brutale Überfälle auf Nazis verübt haben soll. Der 30-Jährige wurde allerdings verstoßen, nachdem eine frühere Lebensgefährtin ihm öffentlich schwere psychische und sexuelle Gewalt vorgeworfen hatte. Die Szene habe »Städteverbote« ausgesprochen; er fühlte sich massiv unter Druck. Als ihn der Geheimdienst an seinem polnischen Zufluchtsort ansprach, entschloss er sich nach zweitägiger Bedenkzeit auszupacken. Er habe wieder »ein selbstbestimmtes Leben führen« wollen, sagte D. als Zeuge vor dem Oberlandesgericht Dresden.
Das Gericht verhandelt seit gut einem Jahr gegen vier ehemalige Mitstreiter von D. Sie sollen eine kriminelle Vereinigung gebildet und unter anderem Überfälle auf eine Nazikneipe in Eisenach und ihren Betreiber sowie auf einen früheren Leipziger NPD-Stadtrat verübt haben. Als Hauptangeklagte gilt Lina E., der die Bundesanwaltschaft vorwirft, »Kommandogeberin« gewesen zu sein. Sie sitzt als einzige Beschuldigte seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft. Eine maßgebliche Rolle wird auch ihrem Lebensgefährten Johann G. zugeschrieben, der untergetaucht ist und, wie es im Gericht heißt, »gesondert verfolgt« wird.
Die Anklage tat sich lange schwer damit, den Vorwurf eines organisierten Zusammenschlusses zu untermauern. Das änderte sich mit dem Auftauchen des Kronzeugen Johannes D., dessen im Juli begonnene Vernehmung jetzt fortgesetzt wurde. Er belastete die Angeklagten schwer. So bestätigte er, es habe in der Gruppe eine Struktur gegeben: »Sie war lose, aber es war dennoch eine Struktur.« Die Mitglieder ordnete er konzentrischen Kreisen zu, deren innerster vor allem die »Ideengeber« umfasst habe. Namentlich nannte er Lina E. und Johann G., die »auf Augenhöhe« agiert hätten und »für mich diejenigen waren, die den Hut aufhatten«.
Der Kronzeuge erklärte auch, die Gruppe habe sich durch besondere Gewaltbereitschaft ausgezeichnet. Deren Maß sei für manche in der Leipziger Szene über das Ziel hinausgegangen: »Es gab Debatten darüber, wie weit man gehen kann.« In der Gruppe selbst habe es aber »keine Zweifel daran gegeben, Nazis auch zu Hause anzugreifen«. Den Beteiligten sei bewusst gewesen, dass das Maß der Gewaltausübung »schon spezifisch« gewesen sei. In einer Vernehmung bei der Polizei hatte D. formuliert, man habe gewusst, dass man »zu den ganz Krassen gehört«. Nach Angaben des Zeugen war sich die Gruppe im Klaren, dass sie auch als kriminelle Vereinigung ins Visier geraten könnte. D. sprach von einer entsprechenden »Grundpanik« in der militanten Szene. Zugleich habe sich Johann D. den entsprechenden Paragrafen 129 des Strafgesetzbuches sogar auf den Unterarm tätowieren lassen. Ein solcher Vorwurf gibt Ermittlern weitreichende Möglichkeiten. So wurden im Prozess Aufnahmen abgespielt, die beim Abhören in einem Fahrzeug entstanden. Folgt das Gericht der Einschätzung der Anklage, drohen den Angeklagten bis zu fünf Jahre Haft. Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats hofft, ein Urteil Ende November sprechen zu können. Bis dahin sind noch knapp 20 Verhandlungstage angesetzt. Ein »glatter Freispruch«, sagte er salopp, »steht ja zurzeit nicht im Raum«.
Dafür sorgen maßgeblich die Aussagen des Kronzeugen. Auf die Frage nach seinem Motiv, sich den Behörden anzuvertrauen, erklärte D., er habe einen »Schlussstrich« ziehen wollen. Die Aufnahme in ein Zeugenschutzprogramm und eine neue Identität hätten »erstmal nicht« im Vordergrund gestanden. In der Szene gilt D. als Verräter. Als er im Zeugenstand erklärte, es sei »nie mein Gedanke gewesen, hier zu sitzen und auszusagen«, erntete er bei den Unterstützern von Lina E. im Saal höhnisches Gelächter.
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