Überleben auf dem Kiez

Die 91-jährige Lotti ist in St. Pauli aufgewachsen und kennt die Besonderheiten im berüchtigten Hamburger Hafenviertel

  • Reinhard Schwarz, Hamburg
  • Lesedauer: 9 Min.
Zeitzeugin Lotti (91) vor dem Hochbunker in St. Pauli-Nord. 
Zeitzeugin Lotti (91) vor dem Hochbunker in St. Pauli-Nord. 

Reeperbahn, Große Freiheit, Davidwache: Das sind Orte auf St. Pauli, die weltweit berühmt oder auch berüchtigt sind. Deren Namen in Spielfilmen und Krimiserien ein aufregendes Leben irgendwo zwischen Seemannsromantik und Halbwelt verheißen. Noch heute zehrt der Stadtteil von diesem Nimbus. St. Pauli ist Goldgrube und Armenhaus zugleich. Nirgendwo sind in Hamburg so viele Obdachlose auf den Straßen, nirgendwo wird zugleich in Bars und Kneipen so viel Rahm abgeschöpft. Jedes Wochenende strömen Heerscharen von Touristen auf die »geile Meile« (Udo Lindenberg). Doch sie erleben nur die Fassade, die bunten Lichter. Lotti, eigentlich Liselotte, kennt den Stadtteil seit ihrer Kindheit.

Die 91-Jährige ist hier aufgewachsen, hat in der Gastronomie gearbeitet und noch bis vor wenigen Jahren als älteste Stadtteilführerin Touristen ihren Wohnort gezeigt. Denn sie lebt auf dem »Kiez«, wie der Stadtteil in Hamburg genannt wird, mittlerweile in einem Seniorenheim. Auch heute berichtet sie aus ihrem Leben, unter anderem vor Gästen im italienischen Restaurant »Cuneo«, das eine Institution im Viertel ist. Lotti ist mit dem unzerstörten Vorkriegs-St.-Pauli als Kind aufgewachsen und erlebte die Zeit nach dem Krieg als Jugendliche und Heranwachsende. Über beinahe jedes Lokal, das schon lange verschwunden ist, kann sie eine Geschichte erzählen.

Wie lebt oder überlebt man auf dem Kiez? Die Regeln seien ganz einfach, erklärt Lotti. Es gelte das Gesetz des Schweigens. Wer über illegale Geschäfte plaudere, vor allem gegenüber der »Schmiere«, also der Polizei, sei erledigt, könne einpacken. Lotti: »Das ist ein eisernes Gesetz auf St. Pauli. Es ist verpönt, über kriminelle Sachen zu sprechen: Du gehst nicht zur Polizei, egal was passiert. Wer das gebrochen hatte, musste sehen, dass er verschwindet, bekam keine Wohnung mehr, bekam keinen Job mehr. Das ist auch heute noch so.« Das Verhältnis zur Davidwache sei allerdings entspannt. »Es lebt jeder sein Leben«, sagt sie vieldeutig.

Dabei war ihre eigene Kindheit extrem schwierig und von Not und Elend geprägt. Im Krieg wurden große Teile der Reeperbahn zerstört, die Menschen retteten sich während der Bombardements in einen Tiefbunker unter dem Stadtteil oder in einen Hochbunker neben dem Heiligengeistfeld in St. Pauli-Nord. Der Bunker nahe der Davidwache wird schon seit Jahrzehnten als Tiefgarage genutzt, hier überlebte auch Lotti als Schülerin. Wer es dorthin nicht mehr rechtzeitig schaffte, war dem Bombardement hilflos ausgeliefert. Viele starben vor den verschlossenen Türen.

Allerdings waren nicht alle Häuser zerstört. Die Gründerzeitarchitektur macht heute den besonderen Charme des Kiezes aus, den längst auch Immobilienfirmen für sich entdeckt haben. Sie kaufen die oftmals runtergekommenen Häuser auf, renovierten sie und verkaufen einzelne Wohnungen an solvente Interessenten. Längst ist St. Pauli wieder ein angesagter Stadtteil geworden, der auch betuchte Menschen anzieht.

Im Stadtbild deutet heute kaum mehr etwas auf die schwierige Nachkriegszeit hin, in der es enorme Versorgungsschwierigkeiten gab. Aber Lotti kann sich daran noch erinnern: »Ein Stück Seife oder Süßstofftabletten waren eine Kostbarkeit. Zucker gab‹s auch nicht. Meine Mutter hatte noch eine Brosche und einen goldenen Ring, die gingen für Essen drauf.« Wer noch etwas zu verkaufen hatte, ging damit auf den Schwarzmarkt. »Der war in der Talstraße und am Hamburger Berg, aber hauptsächlich an der Talstraße, Kreuzung Paul-Roosen-Straße. Da boten die Leute ihre letzten Habseligkeiten an.«

Doch nicht alle waren auf den offenen Schwarzmarkt angewiesen. Es gab auch noch einen Markt, der verdeckt in Wohnungen und Hinterzimmern stattfand. »St. Paulianer waren schon immer gewohnt, klarzukommen«, resümiert Lotti. »Das waren teilweise echte Überlebenskünstler. Alle haben Geschäfte gemacht, mit allem, was gut und teuer war.« In dieser Schatten-Ökonomie »gab es nichts, was man nicht besorgen konnte. Das lief über informelle Kontakte«. So fuhren beispielsweise zu allem Entschlossene nach Schleswig-Holstein und schlachteten auf einer Weide eine Kuh. »Oder ein schwarz geschlachtetes Schwein wurde von einem Beerdigungsunternehmen illegal abtransportiert.« Schlachtungen mussten in der Nachkriegszeit den Behörden angezeigt und genehmigt werden, damit das Fleisch in die allgemeine Verteilung kam. Aber da landete das Schwein mit Sicherheit nicht.

Über diese Umwege kam auch die Schülerin Lotti an ihr Konfirmationskleid. »Alles, was zur Konfirmation nötig war, hat meine Mutter auf dem Schwarzmarkt organisiert.« Die Schieber hatten fast alles. »Ich erinnere mich, dass es bei denen Kaffee und Zigaretten im Überfluss gab.« Allerdings war mit diesen Leuten nicht gut Kirschen essen. »Heute ist mir klar, dass diese Typen Verbrecher waren, die wären über Leichen gegangen. Einen habe ich vor Jahren mal wieder getroffen, der hatte eine Frau geheiratet, die hatte einen Puff in der Herbertstraße.« Dennoch: Die Kiezianer hielten in der Not zusammen. »Jeder versuchte jedem zu helfen.« Aber es war halt eine geschlossene Gesellschaft, zu der nicht jeder Zugang hatte.

Die Zeit zwischen Kriegsende und Währungsreform 1948 waren auch in Hamburg Hungerjahre. Die Versorgung mit Nahrung und Heizmaterial war katastrophal. Gegen die miserable Versorgungslage gab es immer wieder Proteste, wie etwa eine »Hungerdemonstration« am 9. Mai 1947 mit 200 000 Menschen. Am 5. Januar 1948 kam es im Hamburger Hafen zu wilden Streiks. Anlass: Für Schwerarbeiter sollte es Sonderzulagen geben, die aber schon seit Wochen ausgeblieben waren.

»Es ging ums Überleben«, erinnert sich Lotti. »Viele Kinder waren am Verhungern.« Das schwedische Rote Kreuz hatte daher 1945/46 eine Hilfsaktion ins Leben gerufen, bei der untergewichtige Kinder mit besonders kalorienhaltigen Suppen versorgt und damit vor dem Hungertod bewahrt wurden. Es gab Haferflocken-, Erbsen-, Wurzel- und Nudelsuppen. »Wir bekamen in der Schule jeden Tag ein warmes Essen. Da brachte man sein Wehrmachtstöpfchen mit, in das Essen reingefüllt wurde. Hygiene spielte damals überhaupt keine Rolle.« Diese sogenannte Schwedenspeisung rettete viele Kinder vor dem Hungertod.

Lotti, die weitab vom Kiez im bürgerlichen Grindelviertel zur Oberschule für Mädchen gegangen war, hätte gerne das Abitur gemacht. Doch das war angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse, ihre Mutter war alleinerziehend, nicht möglich. Sie schloss die Schule mit der Mittleren Reife ab. Die Kneipe in der Schlachterstraße, nahe der heutigen Ludwig-Erhard-Straße, mit der die Familie ihren Lebensunterhalt verdiente, war während der Bombardements im Sommer 1943 völlig zerstört worden. Die Straße wurde dem Erdboden gleichgemacht und existiert nicht mehr. Lottis Vater gilt als verschollen. Wahrscheinlich hat er als Jude den Krieg und die Verfolgung nicht überlebt. Um die Tochter zu schützen, wurde das Kind zu Verwandten nach Hessen gegeben. Dadurch entging sie den von den Nazi-Behörden organisierten Kinderlandverschickungen. Im November 1945 kehrte Lotti mit 14 Jahren nach Hamburg zurück.

Mit ihrer Mutter, die ebenfalls Liselotte hieß und »Lilo« genannt wurde, und ihrem Bruder Lothar lebte die kleine Familie in einem Zimmer auf St. Pauli in der heutigen Bernstorffstraße. »Man konnte keine Schuhe kaufen, und ich wuchs noch. Beide Winter, 1945/46 und 1946/47, waren extrem kalt.« Die Folge waren Erfrierungen an Händen und Füßen. Während der ein Jahr ältere Bruder eine Kellnerlehre begann, fand Lotti 1947 eine Lehrstelle als Fotolaborantin in der Rothenbaumchaussee, heutzutage eine bessere Adresse in der Stadt. »Das war nur ein ganz kleiner Betrieb, das Haus war von den Briten besetzt, im Keller war das Labor, und im ersten Stock lebte die Familie meines Chefs. Dort befanden sich auch die Geschäfts- und Arbeitsräume.«

Nach der Lehre fand Lotti zwar eine Stelle, doch der Lohn, bis zur Währungsreform am 20. Juni 1948 noch in Reichsmark ausgezahlt, reichte nicht zum Leben. »Der Verdienst war absolut lächerlich. Ich habe mich dann mit Jobs in der Gastronomie über Wasser gehalten.« Doch auch in der Nachkriegszeit galten gesetzliche Regeln wie etwa der Jugendschutz. »Man durfte mit unter 21 Jahren nicht nachts arbeiten, also habe ich tagsüber geputzt und Gläser gespült und konnte mich damit gerade so über Wasser halten.«

Lotti arbeitete auch im »Indra«, in dem später die Beatles 1960 ihre ersten Auftritte hatten. Zusammen mit einer Freundin teilte sie sich ein Zimmer am Pinnasberg auf St. Pauli. »Die Wohnung war ohne jeglichen Komfort, es gab kein Badezimmer, nur kaltes Wasser in der Küche. In Arbeiterwohnungen gab‹s keine Bäder.« Wer mal ordentlich warm baden wollte, suchte sogenannte Badestuben auf. »Da gab es kleine Kabinen mit einer Badewanne. Eine Bademeisterin ließ das Wasser ein, und man konnte sich waschen, bis die Zeit abgelaufen war. Dann klopfte sie an. Das war richtig Luxus, das konnte man sich nicht immer leisten.«

Auch ihre Mutter Lilo hatte in der Gastronomie auf dem Kiez gearbeitet. Im Café »Lausen« stand sie hinterm Tresen. »Im ›Lausen‹ verkehrten Edelnutten. Die Barfrauen hinterm Tresen waren nur dazu da, sich mit den Gästen zu unterhalten. Die anderen Frauen waren sehr gepflegt und entsprechend teuer.« In dem Gastronomieführer »Hamburg von 7 bis 7« heißt es 1966 über das »Lausen« süffisant-anspielungsreich: »Großes Marmortischplatten-Café mit Orchester, Tanz und vielen einsam wartenden Damen, überraschend chic gekleidet.«

Die Plüschwelt mit Edelpuff-Atmosphäre der späten Nachkriegsjahre bis in die Wirtschaftswunder-Zeit gibt es heute nicht mehr. An ihre Stelle traten in den 70er- und 80er-Jahren unter anderem Neppläden, Sex-Shops und Peepshows. In nüchternen Betonburgen wie dem geschönt »Palais d’Amour« getauften Riesenpuff oder dem »Eros Center« bedienten junge Prostituierte in kleinen Zimmern die Freier im Akkord. Lotti bekam diesen Wandel auf dem Kiez nicht aus nächster Nähe mit. Sie verließ Hamburg 1953, um mit ihrem Ehemann im niedersächsischen Oldenburg ein Hotel zu betreiben. Erst im Jahr 2000 kehrte sie nach St. Pauli zurück, als der Stadtteil sich weiter verändert hatte.

Studenten und Künstler hatten zwischenzeitlich das Viertel für sich entdeckt und nachhaltig geprägt. Diese Entwicklung hat eine weitere Welle der Gentrifizierung ausgelöst. St. Pauli galt nicht mehr nur als verrucht und runtergekommen, sondern auch als hip. Die Nachfrage an Wohnraum wuchs, und die Mieten stiegen. Menschen, die ursprünglich dort lebten, konnten sich das irgendwann nicht mehr leisten und zogen weg. Lotti ist aber geblieben. Von ihrer Seniorenwohnung mit einer moderaten Miete blickt sie jeden Morgen auf das gegenüberliegende Bismarckdenkmal und schaut auf die vorbeiströmenden Touristen, die aus den Bussen steigen und auf der Suche sind – nach dem echten St. Pauli.

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