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- Volleyball-WM der Frauen 2022
Die selbsternannte Wundertüte
Deutschlands Volleyballerinnen wollen nach langer Vorbereitung bei der WM für Überraschungen sorgen
Trainingslager vor großen Turnieren haben immer eins gemeinsam: Je näher das Ende kommt, umso weniger kann man die Wartezeit ertragen, bis es endlich losgeht. Bei den deutschen Volleyballerinnen stellte sich dieses Gefühl bereits vor zwei Wochen ein, obwohl sie erst an diesem Sonntag in den Niederlanden ins WM-Turnier einsteigen werden. »Nach sieben Wochen in Kienbaum hat sich in den letzten Tagen definitiv ein Lagerkoller entwickelt«, gab Kapitänin Jennifer Janiska kurz vor der Abreise unumwunden zu. Und auch Bundestrainer Vital Heynen sagte mit dem ihm eigenen Humor über das Olympische Trainingszentrum in Ostbrandenburg: »Sieben Wochen Kienbaum sind zu lang. So lange im Wald! Und man muss fünf Kilometer laufen, um sich draußen mal ein Bier zu holen. Das machen wir nicht noch mal.«
Mittlerweile sind Spielerinnen und Betreuerteam des Deutschen Volleyballverbands (DVV) am Spielort in Arnheim eingetroffen, wo sie zunächst auf Bulgarien treffen werden. Danach folgen Duelle mit Kasachstan, Serbien, den USA und Kanada. »Das ist eine sehr schwere Gruppe. Wenn wir da rauskommen, haben wir schon etwas Großes erreicht. Und dafür ist das erste Spiel extrem wichtig«, prophezeit Heynen. In der Tat wirken die Olympiasiegerinnen aus den USA und Weltmeister Serbien an normalen Tagen zu stark, also wird das DVV-Team wohl vor allem mit Kanada und Bulgarien um die beiden restlichen Plätze in der Zwischenrunde kämpfen.
Die extrem lange Vorbereitung hatte jedoch auch gute Seiten: Die Kraft- und Ausdauerwerte stimmen, sodass Außenangreiferin Lena Stigrot keine Angst vor den harten ersten WM-Tagen beschleicht: »Physisch sind wir alle auf einem superguten Level. Da mache ich mir keine Sorgen vor fünf Spielen in sieben Tagen.« Der zweite Erkenntnisgewinn aus Kienbaum ist, dass sich die Spielerinnen mit dem System des neuen Bundestrainers vertraut gemacht haben.
Man müsste sogar sagen: mit den Systemen. Denn selbst Heynen ist sich noch unschlüssig, auf welche Spielerinnen er zu Beginn setzen wird. Wagt er es, wie schon in der Nations League mit drei Außenangreiferinnen zu spielen, um die Defensive zu stärken? Oder stellt er doch Kimberly Drewniok auf die Diagonalposition, die im Angriff noch mehr Durchsetzungskraft entwickeln kann? »Ich weiß es noch immer nicht. Eine Stamm-Sechs haben wir jedenfalls nicht. Beide Systeme haben wir erfolgreich getestet. Die Hoffnung ist nun, immer das richtige System zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen«, sagte Heynen. Zuletzt gelang das bei der WM-Generalprobe in Berlin, als der Olympiazweite Brasilien mit 3:2 bezwungen wurde. »Die Breite im Kader ist unsere Stärke. Auf jeder Position können wir gleichwertig wechseln. Da ist es schwer für jeden Gegner, sich auf uns vorzubereiten. Wir sind eine kleine Wundertüte, die selbst größere Gegner ärgern kann«, so die Dresdnerin Janiska recht optimistisch.
Um so flexibel wie möglich zu bleiben, hat Vital Heynen mit der 19-jährigen Mittelblockerin Anastasia Cekulaev vom SC Potsdam den Rohdiamanten des DVV nun doch zu Hause gelassen. Dafür nahm Heynen lieber eine weitere Außenangreiferin mit in den 14-köpfigen Kader. »Anastasia hat ihre Sache in der Nations League und auch in Kienbaum sehr gut gemacht, aber vielleicht kommt diese WM für sie noch etwas zu früh«, begründete der Belgier seine Entscheidung.
Nach Jahren der Verjüngung unter seinem Vorgänger Felix Koslowski – vom WM-Team 2018 sind nur noch fünf Spielerinnen dabei – geht Heynen nun also einen etwas anderen Weg. Er holte mit Laura Emonts und Saskia Hippe zwei erfahrenere Spielerinnen nach langer Pause wieder zurück ins Nationalteam. »Das ist jetzt ein wirklich interessanter Mix. Saskia und Laura haben auf Klubebene viel Erfahrung gesammelt. Die kennen genau ihre Stärken und können Ruhe reinbringen, wenn es nötig ist«, sagt Lena Stigrot.
Heynen setzt gern auf erfahrene Typen, die für bestimmte Situationen verschiedene Lösungen kennen. So gewann er mit Polens Männern den WM-Titel und mit den deutschen 2014 Bronze. Nun versucht er sich erstmals mit einem Frauennationalteam – auf die typische humorvolle Art: »Ich habe bei zwei Weltmeisterschaften zwei Medaillen gewonnen. Aber damit will ich gar keinen Druck aufbauen, ist nur so eine Information«, sagte er seinen Spielerinnen zum Abschluss des Trainingslagers.
Die kennen ihn nach sieben Wochen mittlerweile gut genug, um derlei Spitzen mit der nötigen Gelassenheit an sich abperlen zu lassen. Ansonsten aber, sagte Stigrot, »nehmen wir seine ganze Erfahrung wie Schwämme auf. Da ist kein Druck, sondern eher Aufwind.« Und der wird dringend benötigt. Denn das große Ziel heißt Olympia 2024. Nach dann 20 Jahren Pause will man endlich wieder dabei sein. Und der erste Schritt auf dem Weg nach Paris führt nach Arnheim.
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