EU will das Asylrecht weiter aushöhlen

Regierungen wollen Schengen-Raum in No-Go-Zone für Migranten verwandeln. Derweil spitzt sich die Lage an den Außengrenzen zu

  • Fabian Lambeck, Brüssel
  • Lesedauer: 5 Min.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, will die EU derzeit ihr Asylrecht verschärfen. Bereits im Dezember 2021 hatte die Kommission Änderungen des Schengener Grenzregimes angestoßen. Im Juni einigte sich dann der EU-Rat auf die Eckpunkte dieser Reform. Unter anderem will man verstärkt gegen »die Instrumentalisierung von Migranten« vorgehen.

Zur Erinnerung: Vergangenen Herbst und Winter steckten Tausende Migranten aus dem Irak und Syrien an den EU-Außengrenzen fest. Polen, Litauen und Lettland ließen keine Geflüchteten mehr ins Land. Polen errichtete gar eine mehrere Kilometer breite Sperrzone, die auch Journalist*innen nicht betreten durften. Selbst Hilfsorganisationen verwehrte man den Zutritt. Und so erfroren und ertranken Dutzende Menschen an der Grenze.

Doch anstatt die massiven polnischen Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten, will die EU nun ihr Grenzregime weiter verschärfen. Alleinige Schuld an den Vorgängen trägt demnach Weißrusslands Autokrat Lukaschenko, der die Migranten bis an die Grenze bringen ließ. Deshalb wendet sich die Schengen-Reform gegen »Akteure«, die »die EU oder einen Mitgliedstaat destabilisieren wollen«, wie es in einer Erklärung des Rats heißt. Im Falle einer erneuten »Erpressung« soll die Zahl der Grenzübergangsstellen verringert, die Öffnungszeiten sollen reduziert werden. Zudem will man die Grenzüberwachung »intensivieren«.

Das gilt auch für die Binnengrenzen. Laut den Plänen der Kommission sollen Mitgliedsstaaten die Kontrollen an den Binnengrenzen erst nach zwei Jahren und sechs Monaten bei der Kommission rechtfertigen müssen. Laut Entwurf muss der betreffende Staat dies »begründen und den Zeitpunkt angeben, zu dem er die Kontrollen voraussichtlich aufheben wird«. So wird der Ausnahme- zum Dauerzustand. Außerdem will man illegalisierten Migranten das Reisen innerhalb der EU unmöglich machen. Sie könnten zukünftig an den Staat überstellt werden, in dem der Grenzübertritt erstmals erfolgte.

Darüber hinaus soll die Verordnung die teilweise Aussetzung des Schengen-Regimes bei Epidemien auf eine rechtsfeste Grundlage stellen.

Die Stoßrichtung des Entwurfs ist klar: Er soll die Verpflichtungen der Staaten beim Asylrecht weiter aufweichen. Die meisten Mitgliedsstaaten unterstützen die neue Verordnung. Darum soll es nun möglichst schnell gehen. Die tschechische Ratspräsidentschaft will bis Dezember eine gemeinsame Verhandlungsposition der 27 EU-Länder zustande bringen. Die zuständige Asylarbeitsgruppe des Rates tagte am 21. September zu dem Thema. Allerdings wurde über die dort besprochenen Inhalte nichts bekannt. Offenbar will man die Sache ohne großes Aufsehen durchziehen.

Während die meisten Mitgliedsstaaten die geplante Verordnung unterstützen, kommt aus der Zivilgesellschaft massiver Protest. In einem Brandbrief warnen rund 60 Nichtregierungsorganisationen aus ganz Europa, darunter der Europäische Flüchtlingsrat ECRE, Amnesty International und Pro Asyl, vor einer »Aushebelung« des europäischen Asylrechts. »Diese Verordnung ist ein Frontalangriff auf das europäische Asylsystem und die Rechtsstaatlichkeit in Europa. Die Bundesregierung darf ihr im Rat keinesfalls zustimmen«, erklärte Karl Kopp von Pro Asyl.

Kopp kritisiert, dass der Mechanismus, der nun diskutiert werde, den EU-Mitgliedstaaten dauerhaft zur Verfügung stehen soll. »Wir beobachten seit Jahren eine Erosion des Asylrechts und der Rechtsstaatlichkeit an den europäischen Außengrenzen. Doch mit dieser Verordnung würden schäbige Praktiken in Gesetzesform gegossen. Das bedeutet einen Freifahrtschein für repressive Regierungen in der EU«, warnt Kopp.

In ihrer Stellungnahme bezeichnen die NGOs die Reform als unnötig: Tatsächlich biete derzeitige Rechtsrahmen bereits viel »Flexibilität«, um mit Notsituationen umzugehen.

Noch geht es nur um einen Entwurf. Das EU-Parlament hat noch ein Wörtchen mitzureden. Doch Rechte, Konservative und Liberale werden wohl verhindern, dass die grundlegende Stoßrichtung der Verordnung verändert wird. Diskussionen könnte es bei den Kontrollen der Binnengrenzen geben. Hier hatte das Parlament immer wieder angemahnt, dass sie die Ausnahme bleiben müssten. Ansonsten fügt sich der aktuelle Plan nahtlos in die neue inoffizielle Asylpolitik der EU: Was an den Außengrenzen passiert, wird ignoriert. Mitgliedstaaten wie Griechenland dürfen ungestraft Migranten zurückdrängen, die EU-Grenzagentur Frontex leistet aktive Beihilfe.

Eine Gruppe von Abgeordneten der Grünen-Fraktion im Europaparlament wollte sich vor wenigen Tagen ein Bild von der Lage an der griechisch-türkischen Grenze machen. Allein in diesem Jahr sind dort die Leichen von 51 Menschen gefunden worden. Täglich soll es hier zu illegalen Pushbacks kommen. »Der Zugang zur Grenzregion wurde uns verwehrt, obwohl wir Europaabgeordnete sind und ich im Parlament für die Außengrenzen zuständig bin«, berichtet der Grünen-Parlamentarier Erik Marquardt. Stattdessen besichtigte die Gruppe ein Lager, in dem Geflüchtete maximal 25 Tage festgehalten werden dürfen. »Doch in der Praxis werden selbst Kinder dort monatelang eingesperrt und haben weder Zugang zu Bildung noch zu medizinischer Versorgung«, so Marquardt.

Lesen Sie auch zur EU-Asylpolitik das Interview mit Azizou Chehou von Alarmphone Sahara »Die Menschen sitzen hier fest«.

Exemplarisch für das neue Wegsehen ist auch der Umgang mit der Katastrophe von Melilla. Beim Sturm von rund 1700 Menschen auf den Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla waren dort im Juni bis zu 42 Menschen ums Leben gekommen. Die genauen Umstände wurden nie richtig untersucht.

»Dahinter lauert die Systemfrage, klar«, sagt Steffen Mensching. Er stellt mit seinem Roman »Hausers Ausflug« die quälende Frage, wie weit europäische Abschiebepolitik noch gehen wird.

Beobachter*innen sprachen später von einem »Massaker«. Die Linksfraktion im Parlament schickte Ende September eine Delegation in die Exklave. Der baskische Abgeordnete Pernando Barrena kritisierte nach dem Besuch die »politische und polizeiliche Komplizenschaft zwischen Marokko und Spanien«. Zugleich betonte er, dass »sich die meisten Todesfälle auf spanischer Seite ereigneten«. Eine Öffnung des Grenzzauns von spanischer Seite hätte den Tod der Menschen verhindern können, ist sich der Linke sicher.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.