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Ritt auf dem Wellenkamm
Deutschlands Fußballerinnen testen den EM-Hype erstmals zu Hause
Wie in einem harmonischen Ensemble ein Rädchen ins andere greift, haben die deutschen Fußballerinnen gerade erst bei einer Führung durch die Semperoper in Dresden bewundert. Sie sahen den Musikern und Tänzern beim Aufwärmen zu und warfen einen Blick hinter die Kulissen, um zu sehen, was für eine gelungene Aufführung alles veranlagt wird. Solch Anschauungsunterricht kann nicht schaden, kurz bevor die Vize-Europameisterinnen für das Freundschaftsspiel gegen Frankreich an diesem Freitag (20.30 Uhr, ARD) in der Elbmetropole selbst eine größere Bühne betreten. Für die Neuauflage des EM-Halbfinales sind bislang 24 500 Karten verkauft. Die Live-Übertragung zur Primetime dürfte zudem ein Millionenpublikum an den Fernseher locken.
Damit werden zentrale Forderungen erfüllt, die die EM-Heldinnen erhoben hatten. Es geht ihnen um mehr Sichtbarkeit, mehr Anerkennung – und damit dauerhaft um ein größeres Publikum, bei Länderspielen, aber auch in der Bundesliga. Die Rekordkulisse beim Eröffnungsspiel zwischen Eintracht Frankfurt und Bayern München (23 200 Zuschauer) war ein erstes Ausrufezeichen, an den ersten beiden Bundesliga-Spieltagen kamen mit insgesamt 47 238 Fans bereits mehr als in der ganzen Hinrunde der Vorsaison. Der karge Besucherschnitt (811) dürfte locker überboten werden.
Die EM hat dafür jenen Impuls gegeben, der eigentlich von der Heim-Weltmeisterschaft 2011 hatte ausgehen sollen, aber in Deutschland damals schnell und komplett verpuffte. »Die EM-Euphorie konnte mitgenommen werden, das sieht man anhand der Zuschauerzahlen«, konstatiert Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg diesmal. Die 54-Jährige ist erfreut über das positive Feedback der Fans. »Wir sind sichtbar, sie kennen die Namen, sie erkennen die Spielerinnen, und das ist eine tolle Entwicklung.« Es sei nun wichtig, nicht nachzulassen.
Das gilt für alle Seiten, also auch für das Nationalteam. Voss-Tecklenburgs Team ist gefordert, ansprechende Leistungen abzuliefern, auch wenn in Dresden gegen die spielstarken Französinnen mit Marina Hegering (Fußverletzung), Sara Däbritz (Sprunggelenk), Giulia Gwinn (Knie) und Lina Magull (Corona-Infektion) gleich vier EM-Stützen fehlen werden. Nun aber können sich diejenigen zeigen, die schon in England gerne mehr Spielanteile gehabt hätten. »Die Stammelf muss sich weiterentwickeln, gleichzeitig muss man die Belastung steuern«, beschreibt Mittelfeldorganisatorin Lena Oberdorf den Spagat bis zur WM 2023 in Australien und Neuseeland. Der Traum: Am 20. August 2023 glückt in Sydney beim WM-Finale, was im Endspiel der Europameisterschaft in London nicht gelang. Für weitere Fortschritte brauchen die DFB-Frauen definitiv hochkarätige Testmöglichkeiten, die mehr bringen als freudlose Qualifikationsspiele.
Im nächsten Monat steht daher ungeachtet der Terminfülle eine Reise in die USA an, um zweimal gegen die Weltmeisterinnen (11. und 13. November) anzutreten. Fürs Frühjahr sind weitere Vergleiche gegen Topgegner in Vorbereitung – vielleicht kommt es zum Duell gegen Europameister England, dann aber wohl auf heimischem Boden. Die Welle kann schließlich nur ganz oben auf dem Kamm weitergeritten werden.
Es gibt aktuell kaum eine Nationalspielerin, die nicht in irgendeiner Form von der gestiegenen Popularität in ihrem direkten Umfeld profitiert. »Die EM hat extrem viel ausgelöst. Vor allem bei Leuten, die den Frauenfußball sonst nicht so oft verfolgt haben«, findet Edeltechnikerin Linda Dallmann, die sich mit Blickrichtung auf die WM endlich einen Stammplatz sichern möchte. »Mir haben einige erzählt, dass es für sie das Fußball-Highlight des Jahres war. Dass wir so eine Euphorie schüren konnten, hatten wir ja noch nie. Das ist für uns die größte Wertschätzung«, versichert die 28-Jährige.
DFB-Kapitänin Alexandra Popp, die Ende Juli gegen die Französinnen jenen Doppelpack geschnürt hatte, der in der Planstadt Milton-Keynes das umkämpfte Halbfinale entschied, stört sich lediglich daran, dass Verband und Vereine offenbar auf den Boom an der Basis nicht vorbereitet waren. Daran übt die 31-Jährige, die merkwürdigerweise wiederholt mit einem Karriereende vor der WM kokettiert hat, offen Kritik. Der DFB hat 50 197 Erstregistrierungen von Mädchen verzeichnet – und damit gar nicht gerechnet. Es fehlt in den Ballungsräumen an Personal, Plätzen und Kapazitäten.
Das wachsende Interesse von Frauen und Mädchen am Fußball bestätigt eine Studie, die die ehemalige Schweizer Nationalspielerin Bettina Baer für den DFB durchführte. Demnach gibt es 39,7 Millionen Fußballinteressierte in Deutschland, von denen 19 Millionen sowohl den Fußball der Männer als auch den der Frauen verfolgen. Die Zahl dürfte in absehbarer Zeit noch steigen. Das wichtigste Zugpferd bleibt dabei ein erfolgreiches Frauen-Nationalteam, das am besten schon im Rudolf-Harbig-Stadion wieder Harmonie ausstrahlt.
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