»Das lässt dich mit einem Gefühl der Scham zurück«

Die Filmemacher Ole Jacobs und Arne Büttner haben 2020 acht Monate lang in dem Geflüchtetencamp Moria auf Lesbos gedreht. Entstanden ist der Dokumentarfilm »Nasim«

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 9 Min.
Nasim mit ihrem Sohn Alireza am Olivenhain in Moria auf Lesbos.
Nasim mit ihrem Sohn Alireza am Olivenhain in Moria auf Lesbos.

Euer Film beginnt mit griechischem Joghurt. Warum?

Interview

Die Filmemacher Ole Jacobs und Arne Büttner haben die 38-jährige Afghanin Nasim Taijk und ihre Familie im Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos über acht Monate mit der Kamera begleitet, bis ein Brand das Lager zerstörte. Aktuell sind sie zusammen mit Nasim auf einer Kinotour durch Deutschland. Infos und Termine unter: www.rosalux.de/news/id/46945. Ulrike Wagener sprach mit ihnen über die Entstehungsgeschichte von »Nasim«, die gewaltvolle Struktur des Geflüchtetenlagers und Familienalltag mit den geringsten Mitteln.

Ole Jacobs: Wir haben uns eine Eröffnungsszene gewünscht, bei der wir sehr nah bei Nasim sind. Diese Szene zeigt sie in ihrer Mutterrolle, sehr eng mit ihrem jüngsten Sohn Alireza. Der Joghurtbecher-Deckel als Musikinstrument zeigt gut, was für ein Ort Moria ist und zu welcher Art von Improvisation die Menschen hier gezwungen wurden: Wie kann man aus den kleinsten Mitteln eine Art Alltag formulieren, um den eigenen Kindern ein bisschen Sicherheit zu ermöglichen?

Die Familie von Nasim Taijk ist im Februar 2020 aus dem Iran über die Türkei nach Griechenland geflüchtet. Im Iran wurden sie als Afghan*innen diskriminiert. Der Film begleitet die Familie über acht Monate und erzählt ihren Alltag im Geflüchtetenlager Moria. Trotzdem ist euer Film nach Nasim benannt. Warum?

Arne Büttner: Nasim heißt auf Persisch und Arabisch so etwas wie »kleiner Wind« oder »Lufthauch« oder wie sagt man das …

Eine Brise …

Büttner: Ja, genau, eine leichte Brise. Das passt gut zu Nasims Charakter, aber auch zu dem, was der Film erzählt: Mit Leichtigkeit und guter Hoffnung durch eine relativ schwere Situation zu gehen. Der Titel ist simpel, aber passend. Nasim ist unsere Protagonistin, aber auf eine Art und Weise steht sie für sehr, sehr viele Frauen in solchen Camps. Das schwierige Aufrechterhalten von einem »normalen« Familienleben unter widrigen Umständen, die teilweise sehr schmerzhafte Erinnerung an die Kindheit und die Vergangenheit, aber auch positive Hoffnung auf die Möglichkeit, das eigene Leben wirklich zu verändern.

Viele Szenen im Film sind sehr intim. Wie habt ihr Nasim kennengelernt und wie lief die Annäherung mit der Familie?

Jacobs: Wir sind im März 2020 im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung nach Lesbos gekommen, um eine Reportage über die damalige Situation im Camp Moria zu drehen. Damals lebten dort rund 20 000 Menschen, darunter 7000 Kinder. Das widersprach der öffentlichen Erzählung davon, dass hauptsächlich alleinreisende Männer migrierten. In unserer ersten oder zweiten Woche kam Nasim am Rande des Olivenhains auf uns zu und hat sich mit uns in ein Gespräch verwickelt. Das Interesse des sich gegenseitigen Kennenlernens war von vornherein sehr groß, nicht nur mit Nasim, auch mit den anderen Familienmitgliedern. Wir haben sehr behutsam angefangen zu drehen. Die Drehtage sahen so aus, dass wir acht Stunden dort waren, aber auch viel Tee getrunken und uns unterhalten haben.

Eine Szene ganz am Anfang hat mich sehr beeindruckt, da stellt Nasims Schwester Sakin Rahimi ihr sehr direkte und unangenehme Fragen. Erst später stellt sich heraus, dass sie sich so auf die Asylanhörung vorbereiten – ganz ohne rechtlichen Beistand. Könnt ihr etwas über den Hintergrund der Szene erzählen?

Büttner: Die meisten Menschen in Moria haben sich auf ihre Asylanhörung sehr intensiv vorbereitet. Den meisten war bewusst, dass das eine einmalige Chance ist. Bei einer Ablehnung kannst du in Berufung gehen, aber dazu brauchst du juristischen Beistand, was für viele nicht zugänglich ist. Auf der Insel gab es zwei juristische NGOs, von denen eine wöchentliche Workshops zur Vorbereitung auf das Asylinterview gegeben hat. Nasim war da auch mal. Allerdings konnten nicht alle Leute diese Workshops wahrnehmen. Zum einen, weil das Angebot für so viele Menschen nicht ausreichte, zum anderen, weil das Camp damals unter Lockdown war, was es für die Menschen schwierig machte, überhaupt in die Stadt zu kommen. Aber auf einem niedrigschwelligen Niveau haben sich die meisten Menschen auf das Interview vorbereitet. Leute aus der Nachbarschaft, die das Gespräch schon hinter sich hatten, haben erzählt, wie es war, welche Fragen gestellt wurden und wie die Behörde auf ihre Antworten reagiert hat. Und dann wurde das in Frage-Antwort-Spielen geprobt.
Jacobs: In dieser Szene wird auf interessante Art und Weise deutlich, dass diese Initiativen in vielen Fällen die Frauen in der Familie angestoßen haben. Die haben nicht nur Care-Arbeit gemacht, sondern auch maßgeblich administrative Aufgaben übernommen. In einer späteren Szene sitzt Nasim mit ihrem Ehemann zusammen, um wieder dieses Interview zu üben. Auch das ging von Nasim aus, sie wollte bestmöglich vorbereitet sein. In diesem Gespräch wird klar, wie wenig die beiden übereinander wissen und wie sehr Nasim in eine Situation geraten ist, die sie sich nicht selbst ausgesucht hat.

Nasim wurde mit 13 zwangsverheiratet.

Jacobs: Ja. In diesem Gespräch versucht sie, mit ihrem Ehemann die gemeinsame Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Durch diese Gespräche, auch mit ihrer Schwester und ihrer Mutter, findet Nasim sich ein stückweit selbst wieder.

Ein weiterer interessanter Aspekt im Film ist Gewalt. Da gibt es das Holzgewehr von Alireza, Boxunterricht im Camp, sowie Polizeigewalt und die Präsenz der Behörden.

Büttner: Wie viele andere Orte auf der Welt war Moria ein Ort, der sehr stark patriarchal geprägt war. Männer haben geboxt, Holz gefällt und »starke Sachen gemacht«. Frauen haben die Care-Arbeit übernommen, die Bürokratie mit dem griechischen Staat und haben sich vorbereitet auf ihr zukünftiges Leben in Europa.
Jacobs: Moria war ein wahnsinnig gewaltsamer Ort. Wenn 20 000 Menschen eingesperrt werden von der EU, dann entstehen Spannungen. Es gab viele Momente, die wir nicht gefilmt haben, weil wir keinen schockierenden »Poverty Porn« machen wollten, in dem nur das Elend der Menschen dargestellt wird. Es war ein gewaltvoller Ort, auf struktureller, aber auch auf persönlicher Ebene. Dann hast du Alireza angesprochen, Nasims jüngsten Sohn, der unfreiwillig in eine Situation gebracht wird, wo er sich versucht zurechtzufinden, genauso wie alle anderen Kinder auch. Und wie machen Kinder das? Indem sie spielen. Und Krieg zu spielen oder zu simulieren, ist etwas, das auch mit einer gewissen Alltagsflucht zu tun hat, weil der Alltag in Moria einfach schlimm war. Manche haben das durch ihre Handys gemacht, haben sich in ihre bunten Welten geflüchtet und Alireza hat an dem einen Tag mit einem Holzgewehr gespielt. Das ist auch eine Art von Klarkommen mit der Realität.

In der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 zerstört ein Großbrand das komplette Lager. Nasim und ihre Familie kommen in ein neues Camp. Damit endet der Film. Warum?

Büttner: Der Film endet, weil er enden musste. Wir durften nicht weitermachen.

Weil ihr nicht in das neue Camp reindurftet?

Jacobs: Ja, es gab eine ganz neue Türpolitik vom Staat, wir kamen da einfach nicht mehr rein.

Damals gaben sich Politiker*innen schockiert. Es hieß: »No more Morias«, keine Morias mehr. Hättet ihr gedacht, dass zwei Jahre später die Situation an den EU-Grenzen noch schlimmer sein könnte als damals?

Jacobs: Mich persönlich verwundert das nicht. Es gibt in dem Film eine Szene mit dem französischen NGO-Mitarbeiter, der sagt: 30 000 Menschen in Europa aufzunehmen, wäre eigentlich kein Problem. Es ist einfach ein politischer Unwille. Auf der anderen Seite ist es eine politisch gewollte Situation, wenn Menschen unter solchen Bedingungen festgehalten werden. Das gehört zur Abschreckungs- und Abschottungspolitik der Europäischen Union. Es sind immer noch 2000 Menschen im Camp Karatepe auf Lesbos, es wurden neue Camps auf anderen griechischen Inseln gebaut, neue Hotspots sind entstanden. Deshalb wäre es auch nicht repräsentativ gewesen, den Film in Deutschland enden zu lassen, auch wenn Nasim inzwischen hier ist. Denn nach wie vor werden Tausende Menschen in solchen Camps festgehalten.
Büttner: Es wurde gesagt, dass es nie wieder so einen Ort wie Moria geben darf. Und auf eine ganz zynische Art und Weise könnte man sagen, dass die EU zusammen mit Griechenland das geschafft hat. Es gibt dieses neue Camp, da wohnen aber weniger Menschen als vorher. Geschafft haben sie das aber nicht durch Umverteilung und eine humanere Politik an der Grenze, sondern durch Pushbacks und die neue Idee Griechenlands der Illegalisierung der Überfahrten. Man verhindert ähnlich skandalöse Bilder wie die aus Moria, indem man verhindert, dass Geflüchtete überhaupt hier ankommen.

Ihr hattet den französischen NGO-Mitarbeiter angesprochen. Ich glaube, er und eine Frau, die tanzt, sind die einzigen weißen Menschen im Film und beide wirken etwas unbeholfen. Ist das auch eine Kritik eurerseits?

Büttner: Lesbos wimmelt vor NGOs und helfenden Menschen. Das ist ein großes Spektrum von Graswurzelorganisation bis hin zu ganz großen wie UN oder Amnesty.
Jacobs: Zu Beginn dachten wir, dass das Teil des Films werden könnte. Die NGOs sind in einem Dilemma: Ihre Hilfe wird gebraucht, weil der Staat eine Lücke lässt, gleichzeitig erhalten sie dieses System mit am Laufen. Das ist ein grundsätzliches Problem. Manche Menschen in den NGOs gehen damit reflektierter um als andere. Aber es gibt auch viele Mitarbeiter*innen, die mit einer sehr paternalistischen Sichtweise dorthin kommen und auf die Leute herabschauen, denen sie ihre Hilfe anbieten. Leider musste Gilles dafür herhalten. Er ist eigentlich ein netter Typ, aber natürlich steht er auch symbolhaft für ein kränkelndes System, das wir da beobachtet haben. Diese Arbeit ist wichtig, es kommt aber darauf an, wie sie gemacht wird. Allein sich in so einem Camp als weiße Person zu bewegen, ist problematisch. Wir waren nicht nur als Filmschaffende auf der Insel, sondern auch in anderen Funktionen als Freunde und Unterstützer. Und immer wenn du der einen Person hilfst, verwehrst du der anderen eine Hilfe. Und so müssen sich auch viele NGO-Mitarbeitende fühlen. Das lässt dich mit einem Gefühl der Scham zurück.

Wir sind jetzt auch drei weiße Menschen, die sich über die Geschichte von Nasim und ihrer Familie unterhalten. Das Publikum wird wahrscheinlich auch sehr weiß sein. Was wünscht ihr euch, dass die Zuschauer*innen mitnehmen?

Büttner: Bis jetzt gab es kaum Vorstellungen, wo niemand aus Afghanistan oder dem Iran da war. Besonders afghanische Menschen, die selber politisch aktiv sind und sich für ein freieres Afghanistan einsetzen, kommen gerne zu unserem Film. Wir freuen uns, wenn sich die Leute im Kinosaal miteinander vernetzen können.
Jacobs: Wir haben diesen Film zusammen mit Nasim gedreht und der gibt einen Einblick in ihr privatestes Leben. Am Ende hatten wir das unglaubliche Glück – das wussten wir noch nicht, als wir den Film gedreht haben –, dass wir mit Nasim eine Premiere in Leipzig haben konnten und wir jetzt zusammen diese Kinotour machen können. Es ist vor allem Nasim, die mit dem Mikro auf der Bühne sitzt und Fragen beantwortet. Das ist ein interessantes Spannungsfeld zwischen ihr und dem Publikum. Da geht es zum Beispiel um die psychische Isolierung in Erstaufnahmeeinrichtungen in Deutschland. Was kann man vor Ort tun? Sich mit den Menschen vernetzen, ihnen ein Ohr geben. Diese Kontakte in den Alltag einbauen, auch als weiße Person. Nasim ist sehr kämpferisch, was sie sagt, ist sehr politisch. Deshalb ist es vor allem Nasim, die dem Publikum Sachen mitgibt.

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