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- »Mutter Courage und ihre Kinder«
Der Krieg als Gleichmacher
Brecht geht im Schlachtengetümmel unter: Am Maxim Gorki Theater wurde »Mutter Courage und ihre Kinder« fast bis zur Unkenntlichkeit inszeniert
Berlin hat nach vielen Jahren wieder eine »Mutter Courage«. Das Brecht-Stück wird vergleichsweise selten auf die Spielpläne gesetzt. Während etwa die »Dreigroschenoper« mit all den Hits von Kurt Weill allerorten zuverlässig für Stimmung und volle Säle sorgt, ist man bei dieser »Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg« vorsichtiger. Das mag auch daran liegen, dass eine bestimmte »Courage«-Inszenierung bis heute große Wirkmacht entfaltet: die legendäre, von Bertolt Brecht selbst und Erich Engel erarbeitete Aufführung mit Helene Weigel in der Hauptrolle.
Ein Tipp für Interessierte: Das Berliner Ensemble hat eine Aufzeichnung der Arbeit auf seinem YouTube-Kanal veröffentlicht. 1949 kam sie am Deutschen Theater heraus, wechselte dann zum Haus am Schiffbauerdamm und wurde, wie von Brecht verfügt, zur Vorlage für alle weiteren Inszenierungen der kommenden Jahre. Noch bis heute begründet der Erfolg dieser Inszenierung eine gewisse Scheu, das Stück neu zu erarbeiten.
Auch Regisseur Oliver Frljić bezieht sich auf sie, am Schluss der Premiere am Berliner Maxim Gorki Theater lässt er Helene Weigels Stimme einspielen. Sie singt als Courage das Wiegenlied für die tote Tochter Kattrin: »Eia popeia, was raschelt im Stroh«. Ansonsten ist nicht viel von Brecht übrig, er geht im Schlachtengetümmel unter. Und das, obwohl durchaus ein Großteil des Plots vorkommt: Wie die Marketenderin Anna Fierling im Tross eines finnischen Regiments durch Polen und Deutschland zieht, wie sie versucht, am Krieg zu verdienen, wie sie eines nach dem anderen ihre drei Kinder verliert. Alles ist da, aber zugleich völlig unkenntlich und unhörbar.
Frljić lässt sein Ensemble in eineinhalb Stunden durch die Handlung rattern, hetzen, schreien und die einzelnen Schauspielerinnen immer wieder unversehens die Rollen wechseln. Wer das Stück nicht kennt, ist hier verloren. »Frieden, das ist nur Schlamperei, erst der Krieg schafft Ordnung«, hat ganz zu Beginn ein Feldwebel gesagt, und man ist versucht, das Folgende als Gegenbeweis zu verstehen. Denn der Krieg hier ist ein großer Gleichmacher, in dessen Wirkmacht es auch mehr oder weniger egal ist, wer welche Rolle spielt, wer gerade spricht, wer jetzt oder erst etwas später stirbt, wer Mann und wer Frau ist.
Ein rein weibliches Ensemble wirft sich Sätze und Rollen zu. Es sind Maryam Abu Khaled, Yanina Cerón, Lea Draeger, Kenda Hmeidan, Abak Safaei-Rad und Çiğdem Teke. Man denkt zunächst, die Produktion könnte das Leben von Frauen im Krieg, ihre Gefährdung und ihr Leid ins Zentrum stellen, sich womöglich einer feministischen Außen- oder sogar Verteidigungspolitik verpflichten, doch hiervon sind nur in lediglich zwei Szenen Spuren zu erkennen. In einer kehrt Courages Tochter Kattrin geschändet von einem Botengang zurück. Im Original ist sie durch einen Schlag entstellt, hier wird sie mit weit gespreizten Beinen als Vergewaltigungsopfer präsentiert.
In einer anderen Szene bauen die Spielerinnen einen Catwalk aus Särgen auf und laufen mit Verstümmelungen an Armen und Beinen auf ihm entlang. Danach geht es auch schon weiter im Text. Diese Szenen sind nicht motiviert durch eine größere Idee, es sind lediglich Einfälle. Tatsächlich zeitigt der Umstand, dass hier ausschließlich Frauen auf der Bühne stehen, keinen größeren Effekt.
Und warum sollte er auch? Es ist längst üblich, dass Frauen Männerrollen spielen und umgekehrt. Damit allein lässt sich, zumindest in der Theatermetropole Berlin, kein feministisches Statement mehr formulieren. Erst recht nicht bei diesem Stück, da in ihm ja ohnehin eine Frau im Zentrum steht. Wozu also diese Setzung? Wohl aus dem simplen Grund, dass sich mit ihr alles noch ein bisschen schneller erzählen lässt. Wenn Männer und Frauen auf der Bühne nebeneinander stehen, müssen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler zu möglichen sexuellen Konnotationen oder Machtgefällen verhalten, die vom Publikum bewusst oder unwillkürlich angenommen werden. Das reine Frauenensemble kann sich die Arbeit sparen, mit diesen Deutungen umzugehen, sie zu verstärken oder zu unterlaufen.
Oliver Frljić hat ihnen alle Hindernisse aus dem Stück weggeräumt, nun walzen sie mit egalitärer Energie durch es hindurch. Aufzuhalten sind sie nicht. Dutzende Puppen von Leichen pflastern ihren Weg, sie schaffen sie weg, türmen sie zu Podesten auf, werfen sie sich zu, feuern sie an und wärmen sich die Hände über den Flammen. Gewalt wird an diesem Abend mit äußerst plumpen Mitteln dargestellt. Auf alles Kluge, was Brechts Stück über den Krieg zu sagen hätte, muss man hier verzichten. Es bleibt nur die Oberfläche übrig. Für Oliver Frljić, seit Kurzem künstlerischer Co-Leiter des Theaters, ist das ein schwacher Start in den neuen Job. Man wünscht sich fast, die berüchtigten Brecht-Erben hätten diese uninspirierte Inszenierung verhindert. Lieber als eine solche »Courage« hätte man gar keine in der Stadt.
Nächste Vorstellungen: 12., 30.10. und 14.11.
www.gorki.de
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