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- Fußball-WM 2022 in Katar
Orientalisches Prisma
Viel wird über das Gastgeberland der Fußball-WM diskutiert – zu unausgewogen, finden Einheimische und Zugezogene des Emirats
Die Leichtathletin Mariam Farid braucht einige Minuten, um sich auf den Gesprächspartner aus Europa einzulassen. Vielleicht liegt das an der hektischen Umgebung. Das Interview soll in einem Krankenhaus stattfinden, in der Nähe liegt eine beliebte Shopping-Mall von Doha. Im Korridor schiebt ein Pfleger medizinisches Gerät zum Fahrstuhl. Aus den Lautsprechern ertönt eine Durchsage. Mariam Farid richtet sich kurz auf und hört hin. Sie ist im Krankenhaus hauptberuflich für die Pressearbeit zuständig. Sie weiß, wie man Inhalte nach draußen kommuniziert. Sie hat gelernt, ihr Image zu kontrollieren, wie so viele andere Katarer auch.
»Seit Jahren verlangt man in Europa, dass wir uns hier in Katar öffnen und dass wir Fortschritte erzielen sollen«, sagt Mariam Farid und drückt die flache Hand entschieden auf das Sofa, auf dem sie sitzt. »Wenn wir dann Reformen durchsetzen, will das leider fast niemand anerkennen.« Hinter ihr an der Wand hängen Fotos, die ihren Vater, einen anerkannten Zahnarzt, mit einflussreichen Persönlichkeiten zeigen, auch mit dem Emir Tamim bin Hamad Al Thani, dem mächtigen Herrscher Katars. »Viele Katarer wollen nicht mehr wirklich mit westlichen Journalisten sprechen«, sagt Mariam Farid. »Aber ich möchte mich für einen differenzierten Blick auf unser Land starkmachen.«
In gut einem Monat ist es so weit. Am 20. November beginnt im kleinen Katar die Fußball-Weltmeisterschaft. Das Turnier wurde vor zwölf Jahren an den Persischen Golf vergeben. Seitdem berichten Medien aus Westeuropa vor allem über Menschenrechtsverletzungen, über die Ausbeutung der Gastarbeitenden oder die Verfolgung von Homosexuellen. Im Demokratieindex des Magazins »Economist« belegt Katar von 167 bewerteten Staaten Rang 114. Bedrückende Zahlen wie diese lassen in Europa die Abneigung gegenüber Katar wachsen.
Doch auch in Katar möchten sich viele Menschen nicht auf das politische System reduzieren lassen, in dem sie leben. Von den rund 2,6 Millionen Einwohnern besitzen nur 300 000 die katarische Staatsbürgerschaft. Durch die hohen Erdgasvorkommen sind die meisten Katarer auf Jahre hinaus finanziell abgesichert. »Das bedeutet aber nicht, dass wir uns zurücklehnen«, sagt die 24-jährige Mariam Farid, die aus einer sportbegeisterten Familie stammt.
Mariam Farid probierte schon während der Schulzeit etliche Sportarten aus, Schwimmen, Fußball, Hürdenläufe. Als Einzige in der Familie zog es sie in den Leistungssport. Farid trainierte drei, vier Stunden am Tag. Die Sprinterin bestritt 2014 ihre ersten Wettkämpfe, sie wurde von Jahr zu Jahr besser, reiste bald in andere Länder. »Ich habe meine körperlichen Grenzen immer weiter verschoben.« Sie wirkt stolz und scheint den Geräuschpegel des Krankenhauses kaum noch wahrzunehmen. »Durch den Sport kann ich mich ausdrücken.«
Doch gerade bei internationalen Wettbewerben wollen Journalisten selten mit ihr über Sport sprechen. Mariam Farid stammt aus einem Land, das erst seit 2009 über ein Nationalteam der Fußballerinnen verfügt und erst seit 2012 Frauen zu den Olympischen Spielen entsendet. Farid wird häufig auf die katarische Gesetzgebung und die Staatsreligion angesprochen. Das Land ist, ähnlich wie Saudi-Arabien, durch den Wahhabismus geprägt, eine traditionalistische Auslegung des sunnitischen Islam. Noch immer müssen Frauen für etliche Anliegen die Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen. Zum Beispiel, wenn sie heiraten, in einem öffentlichen Job arbeiten oder im Ausland studieren wollen. Jahrzehntelang hatte es in Katar kaum Räume gegeben, in denen sich Frauen ohne traditionelle Bekleidung körperlich verausgaben konnten.
Die Stimme von Mariam Farid klingt nun fester, sie beugt sich ein Stück nach vorne, berichtet von den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2019, die in ihrer Heimatstadt Doha stattfanden. Lange hatte sie darüber nachgedacht, wie dieser Höhepunkt ihrer Laufbahn wohl aussehen würde. Freunde auf den Tribünen, die Familie im Zielbereich, die Gelegenheit für internationalen Austausch. Im Hürdenlauf der WM erreichte Farid dann im Vorlauf ihre Bestleistung, doch sie schied aus. Einige Minuten später in den Katakomben war sie von Journalisten umringt. Immer wieder hörte sie dieselben Fragen: Wie funktioniere das überhaupt, mit einem Kopftuch zu laufen? Wie fühle es sich an, die moderne Botschafterin für einen konservativen Staat zu sein? Später schaute Mariam Farid ins Internet. Ein angesehenes Medium titelte: »Verhüllt vom Kopf bis zu den Zehen«.
Es ist weiterhin wichtig für deutsche Medien, auf die Menschenrechtsverletzungen in Katar hinzuweisen. Mariam Farid will das gar nicht abstreiten, sie kennt sich mit der Branche aus, sie hat Kommunikationswissenschaften studiert. Doch sie findet auch, dass europäische Journalisten häufig durch ein orientalisches Prisma auf die Golfregion blicken. Sie kann ohne Zögern Schlagzeilen zitieren, die aus den immer gleichen Bausteinen zusammengesetzt sind, mit Begriffen wie Wüste oder Scheichs. Sie hat Fotostrecken in Erinnerung, die Sanddünen, Kamele oder die moderne Skyline von Doha zeigen. Der Alltag der meisten Katarer hat damit wenig zu tun.
Mariam Farid möchte diesen Eindrücken etwas entgegensetzen. Auf Instagram veröffentlicht sie Schnappschüsse von ihrem Alltag, sie zeigt sich auf Reisen, beim Einkaufen, im Café und vor allem: beim Training. Mehr als 100 000 Menschen folgen ihr auf der Plattform. Farid möchte keine politischen Fragen zur Monarchie beantworten. Und doch ist ihre Präsenz in den sozialen Medien politisch. Das autokratische Herrscherhaus rüstet sich für eine Zukunft ohne lukrative Gasexporte und will neue Wirtschaftszweige etablieren. Auf der Suche nach westlichen Investoren, Touristen und Fachkräften pflegt das Regime das Narrativ der »starken Frau«. Ob sie will und oder nicht: Mariam Farid ist eine Botschafterin für diesen Kurs.
Und nicht nur das: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation leben 17 Prozent der Katarer mit Diabetes und mehr als 70 Prozent mit Übergewicht. Auch Herzleiden und Gefäßkrankheiten werden das Gesundheitssystem langfristig belasten. Die Herrscherfamilie will die Kosten in Grenzen halten, auch mit Breitensport als Prävention. Seit 2012 begeht Katar jährlich einen nationalen Sporttag. Der Emir und seine Angehörigen lassen sich beim Laufen oder Tennis filmen. Es entstehen Radwege, Fitnessstudios und Sporthallen. Mit dem Thema Sport kommt man mit Katarern schnell ins Gespräch. In einem Staat, der stark auf Überwachung setzt, gilt Sport als relativ unverdächtig.
Inzwischen sind dem Sport, vor allem der Fußball-WM, sogar Exponate im Nationalmuseum gewidmet. Es ist ein Gebäude, das wie vieles in Katar auf Überwältigung setzt. Die verschachtelte Konstruktion aus Beton, Glas und Stahl soll an eine Sandrose erinnern. In den riesigen Innenräumen vermitteln Leinwände, historische Kleidung und Kinosound die Erzählung vom politischen Aufstieg: Katar, seit Ende des 18. Jahrhunderts unter bahrainischer, osmanischer und schließlich britischer Kontrolle, hatte im Jahr seiner Unabhängigkeit 1971 gerade mal 100 000 Einwohner. Mit der Entdeckung eines der weltweit größten Erdgasfelder brach über die beduinisch geprägte Gesellschaft der Reichtum herein. Seitdem hat der Staat schrittweise seine Modernisierung organisiert – mit der Weltmeisterschaft als dem vorläufigen Höhepunkt.
Doch die Menschen, die diese Modernisierung umgesetzt haben, gehen im Nationalmuseum unter. Fast 60 Prozent der Einwohner stammen aus Indien, Bangladesch, Nepal, Pakistan und Sri Lanka, sie arbeiten auf dem Bau, in der Gastronomie, als Hausangestellte. Wer mit ihnen ins Gespräch kommen will, muss an einem Freitagvormittag vom Nationalmuseum etwa 20 Minuten Richtung Westen laufen. An der Corniche, der Uferpromenade von Doha, haben Familien ihre Decken ausgebreitet. Für viele von ihnen ist es der einzige freie Tag in der Woche. Einige junge Männer wirken erschöpft in ihren Klappstühlen, andere spielen Kricket. Katarer sind weit und breit nicht zu sehen.
Und doch wollen etliche Arbeiter nichts Schlechtes über Katar sagen, trotz enger, dreckiger, überwachter Unterkünfte. Krishna zum Beispiel, ein junger Nepalese, musste sich schon vor seiner Ankunft in Katar verschulden. 3000 Dollar zahlte er an eine Rekrutierungsagentur, um eine Anstellung in Doha zu finden. In seiner Heimat Nepal sind fast 60 Prozent der Haushalte von Arbeitsmigration abhängig. Geldeingänge aus dem Ausland machen ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes aus. Allein in Katar arbeiten rund 350 000 Nepalesen. »In Katar geht es mir nicht gut«, sagt Krishna. »Aber in Nepal ging es mir noch schlechter.« Die WM verdeutlicht nicht nur Probleme in Katar, sondern auch in der globalen Migration.
Es gibt aber eine Minderheit in Katar, die mit Migration Wohlstand verbindet. Rund 40 000 US-Amerikaner, 20 000 Briten und fast 2000 Deutsche leben in Doha. Viele von ihnen haben prestigeträchtige Posten in der Medizin, im Dienstleistungssektor, in der Wissenschaft. Eine von ihnen ist die Kommunikationswissenschaftlerin Susan Dun. Sie gehört zu den dienstältesten Forschern in der »Education City«, einem Campus mit Außenstellen westlicher Unis in Doha.
»In vielen europäischen Medien werden komplexe Themen in Katar stark vereinfacht«, sagt Susan Dun, die an der Northwestern University lehrt. »Es gibt in Katar Probleme – aber auch Fortschritte sollten beschrieben werden.«
Susan Dun lädt zu einem Rundgang durch das futuristische Unigebäude. Vorbei an gläsernen Besprechungsräumen und einem funkelnden TV-Studio, in dem sich Studierende mit dem Fernsehhandwerk vertraut machen. Auch die Leichtathletin Mariam Farid hat an der Northwestern studiert und sich intensiv mit kritischem Journalismus beschäftigt.
Doch hier wird es – wie so oft in Katar – wieder einmal kompliziert. In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt Katar von 180 bewerteten Staaten auf Platz 119. Das Pressegesetz von 1979 gestattet dem Staat eine Vorzensur. Für katarische Staatsbürger wie Mariam Farid ist öffentliche Kritik am Herrscherhaus ein Tabu. Und trotzdem kann sie zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen.
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