- Politik
- Proteste im Iran
Anfang einer Revolution
Die landesweiten Proteste im Iran gehen in die vierte Woche. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen haben sich angeschlossen, es gibt bereits Hunderte Tote und Tausende Inhaftierungen
Den Protesten im Iran schließen sich immer weitere Städte und neue soziale Gruppen an. Zuletzt streikte die Arbeiterschaft der Petrochemie im südiranischen Asaluyeh. Vorher hatten sich Studierende und Schüler*innen den Protesten gegen das Regime angeschlossen.
Ausgelöst von dem staatlichen Femizid an Mahsa Zhina Amini protestieren Iraner*innen landesweit und mittlerweile auch weltweit gegen das politische System im Iran. Begonnen hat die kurdische Gesellschaft mit Aufrufen zu Protesten und Streiks. Schon bei der Beerdigung von Mahsa Zhina Amini haben Hunderte Frauen ihre Kopftücher abgelegt und dabei gerufen: »Morden wegen des Kopftuchs, wie lange diese Erniedrigung« und den mittlerweile sehr bekannten Slogan »Zhin, Zhian, Azadi« (Frau, Leben, Freiheit). Doch nicht nur diese Parolen haben sich sehr rasch im gesamten Land verbreitet, auch die Proteste haben es. Als diese in den Straßen wegen der massiven Repressionen weniger wurden, riefen Studierende und Prominente dazu auf, diese weiterzuführen. Die Studierenden haben teilweise angefangen zu streiken.
Inzwischen hat der Staat versucht, die Proteste niederzuschlagen. Es kam zu Erschießungen der Protestierenden auf offener Straße sowie zu massiven Festnahmen. Durch Angriffe auf die kurdischen Zentren im Irak sollte eine bürgerkriegsähnliche Situation erzeugt werden. Milizen haben im südiranischen Zāhedān die Proteste der Belutsch*innen durch massenhafte Erschießung niedergeschlagen und die Sharif Universität angegriffen. In den letzten Tagen gab es massiven Widerstand in den kurdischen Gebieten Irans, insbesondere in der Stadt Sanandaj. Der Staat hat weitere Milizen dorthin geschickt, um diese Proteste niederzuschlagen, dennoch gehen die Proteste weiter, sogar weitere kurdische Städte wie Mahabad und Ilam haben sich den Protesten angeschlossen. Bei allen diesen Angriffen ging es dem Staat darum, so weit wie möglich die ethnische Spaltung zu vertiefen und Menschen durch Abschreckung von den Protesten abzuhalten.
Erfolglos. Die Proteste gehen trotzdem weiter, immer mehr Städte schließen sich an. Schüler*innen haben gestreikt, Lehrer*innenverbände haben ein Statement veröffentlicht und zu Streiks aufgerufen. Kurd*innen haben ihre Kämpfe weiter intensiviert. Weitere Universitäten haben sich angeschlossen. Seit ein paar Tagen sind auch die Arbeiter*innen der Petrochemie in Asalueh im Streik. Mit einem öffentlichen Statement haben sie sich den landesweiten Protesten angeschlossen. Während des Streiks und der Blockade des Werks riefen sie: »Wir werden kämpfen, wir werden sterben, wir werden uns den Iran zurückholen« und »Tod dem Diktator«. Die Stimmung im Land ist trotz massiver Repressionen und großer Einschränkungen des Internets sehr widerständig. Immer wieder kommt es zu mutigen Gefangenenbefreiungen.
Die aktuellen landesweiten Proteste stellen ein historisch einmaliges Ereignis im Iran dar. Schon dass der gewaltsame Tod einer kurdischen Frau große Proteste auslöst, ist sehr ungewöhnlich. Zum ersten Mal in der iranischen Geschichte haben die Zwangsverschleierung und die damit verbundene Geschlechterfrage zu so viel Widerstand geführt. Auch dass Frauen nicht nur landesweit mit den Männern auf der Straße demonstrieren und kämpfen, sondern diese Kämpfe sogar anführen, ist neu. Die Geschlechterfrage und die Unterdrückung der Frau sind im Iran Systemfragen. Daher ist auch die Sichtbarkeit der Frauen, die ihre Kopftücher ablegen und protestieren, so wichtig. Der Staat und die Theokratie des Iran basieren auf der Geschlechtertrennung und der Verbannung von Frauen aus dem öffentlichen Leben.
Zunehmend thematisieren die Protestierenden auch andere soziale Fragen in Bezug auf die Genderfrage. Zum ersten Mal wird auch die persische Version der kurdischen Parole »Frau, Leben, Freiheit« im gesamten Land gerufen. Die ethnische Frage verbindet sich mit der Genderfrage. Die Kombination dieser beiden wichtigen Aspekte der systematischen Unterdrückung verleiht der schon seit Jahren gerufenen Parole »Nieder mit der Diktatur« auf den Straßen des Irans eine konkrete Bedeutung.
Gegen die ökonomische Lage gibt es bereits seit 2018 immer wieder lokale und landesweite Proteste, die sich sehr oft schnell gegen das gesamte politische System und das Regime der Mullahs gestellt haben. Dieses Mal sind Menschen schichtenübergreifend auf der Straße, überall werden die Bilder der Herrschenden und die Symbole der Macht verbrannt. Bei allen diesen Protesten ist die Anwesenheit von Frauen und Mädchen sichtbar, oft ohne die vorgeschriebenen Kopfbedeckungen.
Überall, wo Frauen, Mädchen oder queere Menschen sich befreien und sichtbar werden, wird die gesamte Ideologie des Staates in Frage gestellt. Genauso wenn das Verbot der freien Meinungsäußerung in Frage gestellt und ignoriert wird. Der Staat verbietet systematisch freie Äußerungen in der Form von Kunst, Meinung und natürlich auch Gender und sexueller Identität. Da die Menschen sich die Rechte einfach nehmen, bekommen die Proteste immer mehr einen revolutionären Charakter, auch durch die Ausdehnung von Straßenprotesten zu Streiks in Schulen, Universitäten und der Erdölindustrie. In der Universität Maschhad wurde schon vor einer Woche gerufen: »Das sind keine Proteste mehr, das ist der Anfang einer Revolution«.
Die revolutionäre Phase der Proteste erkennt man am besten, wenn man das Übergreifen der ethnischen und genderbezogenen Proteste zu landesweiten und das System in Frage stellenden Aufständen betrachtet. Mittlerweile beteiligen sich sowohl Arbeiter*innen mit Streiks als auch Studierende. Durch die Ermordungen von Jugendlichen, darunter sehr jungen Frauen, feuert das Regime die Wut großer Teile der iranischen Gesellschaft weiter an. Die Frage, ob es bestehen bleibt, stellt sich nicht mehr. Die Frage ist nur noch, wann es gestürzt wird.
Eine der Hürden für einen Erfolg der Proteste ist, dass es keine strukturierte Opposition mit einer ausreichenden Basis in der Bevölkerung gibt, die die revolutionäre Phase bis zu einem Sturz des Regimes begleiten kann. Aber immer mehr politische und gesellschaftliche Kräfte melden sich zu Wort und versuchen mehr Zuspruch innerhalb der Bevölkerung zu finden. Was ganz klar ist: Wer Grundrechte erkämpfen will, wartet nicht mehr auf das, was vielleicht kommt.
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