Aufnahme im Streckbetrieb

1000 Menschen aus Afghanistan sollen monatlich über das Bundesaufnahmeprogramm der Bundesregierung Schutz finden

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

Über ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August vergangenen Jahres ist es so weit: Die Bundesregierung hat ein Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete »afghanische Staatsangehörige in Afghanistan« beschlossen. Darunter fallen Menschen, die »sich durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders exponiert haben«. Zum anderen solche, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität oder ihrer Religion Verfolgung erfahren. Das Vorhaben hatten SPD, Grüne und FDP bereits im Koalitionsvertrag vereinbart. Das Ortskräfteverfahren bleibt hiervon unberührt.

Über das Bundesaufnahmeprogramm sollen pro Monat künftig ungefähr 1000 Menschen einreisen, wie Innen- und Außenministerium am Montag in Berlin mitteilten. »Dabei orientieren wir uns an der Zahl der Menschen, die wir auch bisher aufgenommen haben. Denn wir sehen die große Belastung der Kommunen durch die hohe Anzahl Geflüchteter, die wir in diesem Jahr bereits aufgenommen haben. Die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit haben wir fest im Blick«, sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Damit antizipierte sie wohl bereits die Kritik aus der Union. Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU), der aktuell Vorsitzender der Innenministerkonferenz ist, erklärte: »Der Bund betreibt unter dem Deckmantel der Humanität eine Migrationspolitik zu Lasten der Länder, Landkreise, Städte und Gemeinden.«

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bezeichnete das Vorhaben als Mammutaufgabe: »Zu erklären, dass wir Menschen aufnehmen, ist das eine – dafür zu sorgen, dass sie dann auch sicher aus Afghanistan heraus nach Deutschland kommen können, das andere.« Bislang wurden nach offiziellen Angaben fast 26 000 Ortskräfte und besonders gefährdete Afghan*innen in Deutschland aufgenommen. Aufnahmezusagen hatten etwa 38 100.

Vielen Fürsprecher*innen der Schutzsuchenden geht es zu langsam: »Für viele Menschen, die in Afghanistan um ihr Leben und ihre Sicherheit bangen, wird es so absehbar noch Monate oder gar Jahre dauern, bis sie eine Aufnahmezusage für Deutschland bekommen können«, sagt Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag. Sie kritisiert den Umfang des Programms als »unambitioniert und bürokratisch«. Man habe sich offenbar an den bisherigen Kapazitäten der beteiligten Behörden orientiert.

Auch am Verfahren gibt es Kritik. Schutzsuchende können sich nicht selbst für das Aufnahmeprogramm bewerben, sondern können nur von bestimmten in Deutschland registrierten und vom Bundesinnenministerium akzeptierten Nichtregierungsorganisationen vorgeschlagen werden. Die Ministerien begründen das mit einer erschwerten Sicherheitsüberprüfung dadurch, dass die deutschen Vertretungen in Afghanistan geschlossen sind und die sonst übliche Zusammenarbeit mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) nicht möglich sei. Eine zentrale Auflistung dieser Stellen gibt es nicht. »Wer keine Kontakte zu meldeberechtigten deutschen Nichtregierungsorganisationen hat, wird es besonders schwer haben. Statt guter Kontakte sollten jedoch Vulnerabilität und Gefährdung den Ausschlag geben«, sagt Beat Wehrle Vorstandssprecher von terres des hommes.

Pro Asyl warnt davor, dass das Programm zu einer Art »Schutzlotterie« mit geringen Gewinnchancen für gefährdete Afghanin*innen zu werden droht. Die Organisation begründet das damit, dass nicht alle von den Meldestellen vorgeschlagenen Fälle von Sachbearbeiter*innen geprüft würden, sondern künftig ein computergestütztes Programm die Fälle nach bestimmten Kriterien wie Vulnerabilität und persönlicher Exponiertheit, aber auch Deutschland-Bezug und besonderes politisches Interesse Deutschlands vorfiltert. Hier bestehe »die Gefahr, dass ernsthaft gefährdete Menschen, die aber zum Beispiel möglicherweise nicht die nötigen Sprach- und IT-Kenntnisse mitbringen, durch das Raster fallen«, schreibt Pro Asyl in einer Stellungnahme.

Die Organisation warnt außerdem davor, das Bundesaufnahmeprogramm auf einige schutzbedürftige Personengruppen zu verengen. Die Forderung der Bundesaußenministerin, Frauen und Mädchen zu schützen, sei vollkommen richtig. »Im Falle von Racheaktionen durch das Taliban-Regime ist zu berücksichtigen, dass überwiegend männliche Familienangehörige in dessen Visier geraten«, heißt es. Terres des homme kritisiert, dass Kinder nicht als eigene schutzbedürftige Gruppe im Bundesaufnahmeprogramm anerkannt würden. Gerade in Afghanistan sei kindspezifische Verfolgung wie Zwangsverheiratung und Zwangsrekrutierung allgegenwärtig.

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