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Gefährliche Aufarbeitung
Ein Gerichtsprozess in Guatemala könnte Verstrickungen von Militärs und Unternehmern im Bürgerkrieg aufdecken. Nicht alle haben daran ein Interesse
Plakate mit Gesichtern von Personen, die das Militär verschwinden ließ, bedecken die Häuser in der 6. Avenida von Guatemala-Stadt rund um das Museum des Guatemaltekischen Holocaust. Es sind ernste, verzweifelt wirkende Gesichter von Frauen, Männern und Kindern – die Schwarz-weiß-Fotos mit harten Kontrasten stammen oft aus Polizeiarchiven. Die Bilder erinnern an das Guatemala der 80er Jahre, als der Bürgerkrieg (1960–1996) das Land mit unglaublicher Brutalität überzog und indigene Ethnien wie die Ixil sowie politisch Andersdenkende im Fokus des staatlichen Terrors standen.
Das Museum will die Verfolgung der Ixil sichtbar machen. Es liegt gegenüber vom Zentrum für legale Menschenrechtsaktionen. Dessen Direktor Héctor Reyes hat nahezu täglich mit einem oder auch mehreren Fällen von Verschwundenen zu tun, die aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet wurden. Er schreibt Eingaben, Widersprüche oder Beschwerden, damit die Fälle nicht eingestellt werden.
Wie es gegenwärtig um Guatemala steht, zeigt sich beim Prozess um das »Diario Militar«, der gerade anläuft und Symbolcharakter trägt. 26 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs stehen Mitglieder eines geheimen Netzwerks von Militärs vor Gericht, das von Unternehmen dabei unterstützt wurde, Andersdenkende in Guatemala gewaltsam verschwinden zu lassen. Nur per Zufall kam das »Militärische Tagebuch« ans Licht. 1999 wurde der US-Wissenschaftlerin Kate Doyle von der Nichtregierungsorganisation Nationales Sicherheitsarchiv eine Mappe mit ursprünglich 53, später 74 maschinengeschriebenen Karteikarten zugespielt. Darauf finden sich die Namen von anfangs 183, dann 195 Männern und Frauen, die meisten Aktivisten linker Organisationen. Die Karten enthalten persönliche Informationen zu Familie, Wohnort, Arbeitsplatz. Sie wirken wie eine minutiöse Anleitung zum Mord für die Todeskommandos.
Auf den vergilbten Karteikarten, hier und da handschriftlich ergänzt, kommen zahlreiche Codes zum Einsatz. Darunter der Code 300. Dieser steht für die Ermordung der betreffenden Person und die Beseitigung des Leichnams. Mehr als 100 der 195 genannten Menschen in der Kartei kamen ums Leben, etliche wurden gefoltert, bis sie Informationen weitergaben. Einige überlebten und könnten nun vor Gericht als Zeugen aussagen. Die Vorbereitungen laufen, und die Nebenkläger spielen in dem Fall eine zentrale Rolle. »Es sind mehr als ein Dutzend«, erzählt Reyes, »darunter Paulo Estrada.«
Der 39-jährige Archäologe ist bereits sein halbes Leben auf der Suche nach Spuren seines Vaters: Otto Estrada Illescas. Seit dem 15. Mai 1984 ist der damals 31-jährige Wirtschaftswissenschaftler verschwunden. Er war in Studentenorganisationen aktiv, später in der guatemaltekischen Arbeiterpartei (PGT). Ein bekennender Linker. Vermutlich wurde er deshalb im Zentrum von Guatemala-Stadt von Sicherheitskräften festgenommen.
»Zu Beginn der 80er Jahre gab es eine staatliche Politik des gewaltsamen Verschwindenlassens, die alle ins Visier nahm, die anders dachten und die vom militärischen Geheimdienst zum internen Feind deklariert wurden«, erklärt der kräftige Mann mit langem Haarschopf und buschigem Bart. Bei der Festnahme wurde sein Vater verletzt. Paulo Estrada geht davon aus, dass er wie so viele andere bis zu seinem Tod am 1. August 1984 gefoltert wurde, um an Informationen über das linke Milieu zu kommen. Z133 lautet die Nummer, unter der Otto Estrada im »Diario Militar« geführt wurde. Z156 lautet die von Julio Alberto Estrada Illescas, dem Onkel von Paulo Estrada, der einen Monat später verhaftet wurde und ebenfalls nie wieder auftauchte.
Wo ihre Überreste sind, das versucht Paulo Estrada seit Jahren herauszubekommen. Natürlich fragt er sich, warum ausgerechnet er das Schicksal tragen muss, ohne seinen Vater aufzuwachsen. Vor elf Jahren begann er sich systematisch mit dem »Diario Militar« und dem Verschwinden seines Vaters zu beschäftigen. 2014 fielen ihm zum ersten Mal die dubiosen Gestalten auf, die ihn verfolgten. Auch nahmen die seltsamen Telefonanrufe zu, die offensichtlich dem Zweck dienten, seinen Aufenthaltsort herauszubekommen. Estrada gab den Drohungen nach und ging ins Ausland; von Kanada oder Mexiko aus pflegt er den Kontakt zu anderen Opferfamilien, recherchiert Hintergründe zu Verbrechen, deckt Verbindungen auf, sucht nach Beweisen, die er mit anderen Nebenklägern auswertet. Gemeinsam versuchen sie, zur Aufklärung im Prozess beizutragen.
Manchmal kehrt er nach Guatemala zurück, oft für ein paar Tage, manchmal auch für einige Wochen. Dann lebt er bei einem befreundeten Anwalt, isst nach Feierabend in einer Pizzeria von Freunden und verlässt das Land, so wie er gekommen ist: unauffällig.
Bei den Bürgerkriegsprozessen ist er meistens anwesend. Er begleitet sie als Beobachter und Analyst für die Menschenrechtsorganisation Wahrheit und Gerechtigkeit in Guatemala, die er mit der US-amerikanischen Politologin Jo-Marie Burt gegründet hat. Das ist nicht ungefährlich, das weiß er. Vielsagend deutet er auf das gerahmte Bild seines Vaters, das er von der Wand genommen hat. Die Geschichte könnte sich wiederholen, meint er. Während einer Anhörung für den »Diario Militar«-Prozess vor ein paar Monaten hat er aufgeschnappt, wie einer der 15 inhaftierten Angeklagten zu den anderen flüsterte: »Wir müssen sehen, was wir mit Paulo machen, er kontrolliert den Fall.« Drei Angeklagte sind noch immer flüchtig.
Für Paulo Estrada ist das ein Indiz dafür, dass die Angeklagten weiterhin über einschlägige Kontakte verfügen. Auch Héctor Reyes, vom Zentrum für legale Menschenrechtsaktionen hat daran keinen Zweifel: »Der Prozess steht auf einer Stufe mit dem gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt von 2013«, erzählt er. Erneut wird mit einem Prozess versucht, die kriminellen Strukturen innerhalb des Militärs sowie ihrer Hintermänner aufzudecken. »Genau deshalb gehen diese Kreise heute gegen den ermittelnden Richter Miguel Ángel Gálvez vor«, sagt Reyes.
Gálvez ist renommiert, unabhängig und international angesehen. Er leitet das Gericht für Kapitaldelikte B und ist auch für den Prozess um das »Diario Militar« zuständig. Seit Monaten sieht er sich einer massiven Kampagne in den sozialen Medien ausgesetzt, die von der Stiftung gegen den Terrorismus vorangebracht wird. Sie ist der Ableger einer Veteranenorganisation, verfügt über exzellente Kontakte in die Generalstaatsanwaltschaft, das Ministerio Público, und hat ein Verfahren wegen Rechtsbeugung gegen Gálvez initiiert. Dem droht damit die Aufhebung der Immunität. Das wäre kein Einzelfall in Guatemala. Allein in den letzten 18 Monaten mussten rund zwei Dutzend Richter und Staatsanwälte das Land verlassen, weil ihnen Haft drohte. Auch der in den USA als »Zar der Antikorruption« gerühmte Staatsanwalt Juan Francisco Sandoval verließ im Juli 2021 fluchtartig das Land. »Wir werden gerade Zeugen einer totalen Übernahme des Staates durch kriminelle, korrupte Netzwerke«, meint Héctor Reyes. Wichtige Prozesse werden dadurch torpediert.
Das scheint auch die Strategie rund um den »Diario Militar«-Prozess zu sein. Nicht zuletzt deshalb, weil für die Angeklagten die Beweislage erdrückend ist. Mehr als 8000 Dokumente und Beweisstücke haben Nebenkläger wie Paulo Estrada und deren Teams zusammengestellt. Sie lieferten die Grundlage für die Haftbefehle gegen die 18 Verdächtigen.
Die Festnahme von Toribio Acevedo Ramírez, des einzigen Zivilisten unter den Angeklagten, gestaltete sich filmreif. Der 68-Jährige wurde am 10. Mai 2022 auf dem Flughafen von Panama-Stadt von Interpol geschnappt, bevor er einen Flieger nach Europa nehmen konnte. Acevedo ist als ehemaliger Sicherheitschef von Cemento Progreso ein Bindeglied zwischen Militärs und konservativen Unternehmern. »Laut Zeugen hatte er Spaß zu foltern, schreckte auch nicht davor zurück, Kinder zu quälen«, erzählt Paulo Estrada mit leiser Stimme. »Mit seiner Festnahme ist es uns gelungen, die direkte Teilhabe von Unternehmen an diesem schmutzigen und brutalen Krieg nachzuweisen.«
Diese Strukturen haben Kontinuität. Bestes Beispiel dafür ist die von Korruption durchzogene Regierung von Alejandro Giammattei. Systematisch setzt sie unabhängige Richter unter Druck. Miguel Ángel Gálvez ist dafür nur ein Beispiel. Der Richter hat in der Vergangenheit immer wieder brisante Fälle verhandelt. Wie seine Kollegin Yassmin Barrios ist er zu einer Symbolfigur in Guatemala geworden. Barrios hat den Jahrhundertprozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt wegen des Genozids an der indigenen Ethnie der Ixil geleitet und ihn zu 80 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil wurde allerdings wegen eines konstruierten Formfehlers gekippt. »Schon damals hat sich gezeigt, wie weit der Arm der Militärs im Verbund mit dem Unternehmerverband Cacif reicht«, meint Héctor Reyes. Dieses Spektrum habe es in den letzten Jahren geschafft, seine Macht systematisch auszubauen. »Deshalb ist die Situation von Miguel Ángel Gálvez so prekär. Wahrscheinlich wird er sich in den nächsten Wochen im Ausland in Sicherheit bringen«, glaubt er.
Eine mögliche Option, das Land zu verlassen, ist ein Deutschland-Besuch im November, den Gálvez gemeinsam mit seiner Kollegin Yassmin Barrios und dem Richter Haroldo Vásquez unternimmt. Für den Prozess um das »Diario Militar« wäre das ein Desaster. Dann würde ein Ersatzrichter den Fall übernehmen, zahlreiche Beweise nicht zulassen und den Prozess langsam auslaufen lassen. Menschenrechtsexperten wie Héctor Reyes halten das für wahrscheinlich.
Für Paulo Estrada muss ein solches Szenario nicht unbedingt das Ende seiner minutiösen Recherche- und Koordinationsarbeit sein. Die Option, sich an ein internationales Gericht wie den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden, bleibt. Ein letzter Strohhalm für ihn und die Familien von mehr als 100 Opfern des staatlichen Terrors gegen die guatemaltekische Linke.
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