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Krieg toppt alles, wieder mal
Sicherheit gibt es nur gemeinsam – Ein eindringlicher Friedensappell von Peter Brandt, Reiner Braun und Michael Müller
Bald sind 250 Tage seit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine vergangen. Aus der »Spezialoperation« ist ein großer Krieg bis zur Erschöpfung der jeweils anderen Seite geworden. Und da solche langen Kriege vor allem auch von der Zufuhr von Waffen und Geld abhängig sind, sind die USA und die mit ihr verbündeten Staaten zur Kriegspartei geworden, an der wirtschaftlichen, der politischen und der ideologischen Front sowie über die Systeme der satelliten- und informationsgestützten Kriegsführung auch direkt. Kein Staatsbürger Deutschlands sollte sich einer Illusion hingeben: Wir sind im Krieg. Genauso wie im Krieg gegen Jugoslawien oder in Afghanistan, nur noch nicht mit eigenen Soldaten, aber schon mit eigenem schweren Kriegsgerät, Know-how und Krediten.
In einer solchen Situation braucht es Aufklärung. Denn wir stehen nicht mehr am Rand des Friedens, wie Siegried Lenz es 1988 ausdrückte, sondern am Abgrund des Krieges. Schon zeichnet sich der nächste Kriegsschauplatz ab, der mit der Nato-Ausdehnung in den Pazifik aktiv vorbereitet wird. Es wird ein Krieg um Taiwan und um die Seewege von Asien nach Afrika, Europa und Lateinamerika vorbereitet. In einem solchen Augenblick ist es geradezu die Pflicht jeder und jedes, der nicht endgültig den Kopf verlieren will, bevor andere Körperteile dran sind, das Buch von Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun zu lesen. Denn genau dies ist die Alternative: »Selbstvernichtung oder gemeinsame Sicherheit«. Eines ist klar: »Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe«, wie Walter Benjamin 1940 schrieb. Von Schlafwandeln in die Selbstvernichtung kann für keinen eine Rede sein, der dieses Buch gelesen hat. Sehend haben die Herrschenden die heutige Kriegskatastrophe vorbereitet oder zugelassen, schweigend haben wir es hingenommen. Aber genau dieser furchtbare Krieg kann auch ein Weckruf sein, um die Notbremse zu ziehen, um den Herrschenden bei der Entfesselung eines neuen Kalten Kriegs, bei der Zurichtung des Anderen zum Feind des Menschengeschlechts, bei einer neuen Welle der hochtechnologischen Aufrüstung in die Arme zu fallen. Michael Müller, Peter Brandt und Reiner Braun bringen es auf den Punkt: »Die Wahl, die wir haben, lautet: Entweder kommt es zur Selbstvernichtung der Menschheit oder zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft.«
Das Buch gliedert sich in vier Teile. Es geht erstens darum, wie es zu diesem Krieg gekommen ist. Dabei betonen die Autoren immer wieder, dass vor allem der Westen und im engeren Sinne die USA nach 1990 eine Strategie unilateraler Vorherrschaft, der Ausdehnung der eigenen Macht und der Zurückdrängung des Einflusses Russlands verfolgt haben. Ihre Regeln sollten von nun an gelten, ihre Ordnung der Maßstab werden. In leichter Abwandlung der Aussage von Lord Hastings Ismay, dem ersten Generalsekretär der Nato, über deren Zielsetzung (»To keep the Americans in, the Russians out and the Germans down«), könnte man das heutige Ziel der US-Strategie mit den Worten zusammenfassen: »Sicherung der Vorherrschaft der USA, Zurückdrängung der Russen und Chinesen, Unterordnung der Europäer.« Mit gutem Grund wird die Veränderung der russischen Politik mit den verschiedenen Runden der Nato-Erweiterung in Verbindung gebracht. Putins immer deutlichere Warnungen, eine Rote Linie werden überschritten, wurden ignoriert, Bedenken aus Frankreich und Deutschland heruntergespielt, wie die Autoren nachweisen. Genaueres erfahren die Leser auch über die lange Vorgeschichte dieses Krieges, der nicht aus dem Nichts kam. Die USA waren nie an einem wirklichen Einschluss Russlands in die europäische Ordnung interessiert, da dies die Kräfteverhältnisse zu ihren Ungunsten verschoben hätte.
Zweitens macht das Buch deutlich, in welchem Maße dieser Krieg das Schicksal Europas betrifft. Ihre Hauptthese in diesem Zusammenhang ist: »Die Initiative für einen Waffenstillstand in der Ukraine und für eine dauerhafte Friedensarchitektur muss vor allem von Deutschland und Frankreich ausgehen. Die Selbstbehauptung Europas ist die Voraussetzung für einen Frieden. Die USA haben kein Interesse an einem starken Europa mit Russland. Stattdessen soll es zu einer ›globalen Nato‹ unter der Dominanz der USA kommen.« Ich hätte mir gewünscht, dass noch deutlicher gezeigt werden würde, wie wenig gerade die politische Elite Deutschlands in der Lage ist, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Aktiv wurde an einer globalen Nato mitgearbeitet, Kriegsschiffe und die Luftwaffe werden ins ostchinesische Meer und nach Australien entsandt, die deutsche Außenministerin ist an USA-Hörigkeit kaum zu überbieten – außer vielleicht durch Anton Hofreiter. Es gibt den missionarischen Eifer, die »regelbasierte Ordnung« des Westens unter dem Kommando der USA zu erhalten, auch mit militärischen Mitteln. Der Plan von Zbigniew Brzezinski, dem Vordenker des US-Unilateralismus, durch die Eingemeindung der Ukraine Russland als europäische Macht auszuschalten und die EU in einen bloßen Vorposten der USA auf dem eurasischen Kontinent zu verwandeln, geht bisher auf. Es ist ein Meisterstück, Staaten dazu zu bringen, gegen die ureigenen Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürgern zu handeln. So wird Herrschaft auf hohem Niveau ausgeübt. In der deutschen Öffentlichkeit sind die Konsequenzen dieser Politik, die uns in eine neue globale Konfrontation treibt, noch nicht einmal im Ansatz diskutiert.
Drittens: Krieg toppt alles – wieder einmal. Wer die politische Tagesordnung beherrscht, bestimmt die weitere Entwicklung. Die Ziele der UN für Entwicklung und Ökologie sind im Westen völlig in den Hintergrund getreten. Es werden Sondervermögen für Militär und Kriegsfolgen gebildet, aber nicht für die eigentliche Hauptaufgabe – die sozialökologische Transformation. Es ist das Verdienst dieses Buches, diese Zusammenhänge sehr plastisch vor Augen zu führen. Wie schon nach 1990 werden die wichtigsten Fragen ignoriert, Zeit, die die Menschheit nicht hat, vertan. Das Buch schließt viertens mit der Vision gemeinsamer Sicherheit. Die Vorarbeiten dafür reichen vierzig Jahre zurück. Sie gehen auf die drei Berichte zu Sicherheit, Entwicklung und globaler Solidarität zurück, die unter Vorsitz von Olof Palme, Willy Brandt und Gro Harlem Brundtland erarbeitet worden waren. Mittlerweile liegt ein Bericht »Gemeinsame Sicherheit 2022« vor, organisiert vom Internationalen Gewerkschaftsbund, dem Internationalen Friedensbüro und dem Internationalen Olof Palme Center in Stockholm. Die Botschaft dieses Berichts ist klar: »Wir müssen die internationale Ordnung in den Griff bekommen, um Kriege zu verhindern, die globale Erwärmung aufzuhalten, Pandemien zu bekämpfen und globale Herausforderungen zu bewältigen.«
Michael Müller/ Peter Brandt/ Reiner Braun: Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit. Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise. Westend, 175 S., br., 16,99 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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