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  • Kultur
  • Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse

»Selbstkultivierung«

Helwig Schmidt-Glintzer sucht die Wurzeln von Chinas Stärke auch in dessen Traditionen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor Jahren noch sprach man darüber nur hinter vorgehaltener Hand, heute ist es nicht mehr zu leugnen: Bezüglich seiner Wirtschaftskraft ist China gegenüber den USA und auch der Eurozone auf der Überholspur. Wie funktioniert dieses riesige Land, das aus vielen Völkern und Kulturen besteht? Darauf gibt Helwig Schmidt-Glintzer, bis 1993 Professor für Ostasiatische Kultur und Sprachwissenschaft an der Universität München und danach bis 2015 Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, eine interessante Antwort: »Das politische System scheint heute stabiler denn je, schon weil die Bevölkerung Chinas aus Furcht vor Chaos zu einer Gemeinschaftsbildung mit begrenzter Machtdelegation neigt.«

Eine starke Zentralmacht wird hierzulande schnell als »autoritär« kritisiert. Von einem einzigen Machtzentrum aus würde sich ein so differenzierter Staat indes nicht regieren lassen, wie das Scheitern des sozialistischen Versuchs in Europa zeigt. Es braucht fähige Funktionsträger vor Ort mit einem Freiraum, schöpferisch zu agieren. Das Entstehen einer osteuropäischen Oligarchie aber zeigt, wie groß die Versuchung ist, dass solche »Territorialfürsten« sich auf Kosten der Allgemeinheit hemmungslos bereichern, obwohl sie im Parteilehrjahr fleißig waren. In China, wo es seit jeher die Befürchtung zentripetaler Bewegungen gab, hat man diese Vorgänge analysiert. Ein »moralischer Kompass« ist dort weit mehr als ein Parteitagsbeschluss.

Helwig Schmidt-Glintzer ist in chinesischer Geschichte und Kultur bis in die Details bewandert wie die meisten seiner Leser nicht. Er sieht das Prinzip »Selbstkultivierung« in einer langen Tradition, auf die sich der heutige Staat berufen kann. Gemeint ist »das Bild des verlässlichen und nach dem Prinzip des Anstands und im Sinne des Gemeinwohls handelnden Staatsbürgers«, eines Menschen, »der sich keiner Kontrolle außer dem eigenen moralischen Kompass verpflichtet fühlt, wie es traditionell in dem Literatenbeamten idealisiert wurde«.

Der hierzulande unbekannte Begriff geht auf die komplizierten Beamtenprüfungen im kaiserlichen China zurück, bei denen auch die Befähigung in Kunst und Literatur unter Beweis zu stellen war. Da spielt auch die durchaus komplizierte Schrift eine Rolle. Sie zwingt in Regeln, verlangt dauernde Übung und kann doch in winzigen Details die Persönlichkeit des Schreibenden erkennen lassen.

»Der Edle passt sich an, aber macht sich nicht gemein«, wird Konfuzius zitiert, ohne dessen Erbe das China von heute wohl nicht zu verstehen ist. »Das Prinzip der Harmonie«, so in westlichen Gesellschaften nicht geläufig, verlangt, »dass alle ihr Gesicht wahren können«. So weit es möglich ist, sei hinzugefügt, denn die Drohung drastischer Strafen bei Übertretung der Regeln hängt immer in der Luft. Angestrebt aber sind »Vertrauens- und Verantwortungsnetzwerke«. Ist es falsch, dabei an die Formen ursprünglicher Gemeinwesen, Dorfgemeinschaften und Ähnliches zu denken, die von der Kapitalisierung in Europa hinweggefegt wurden? Auch sind, wie Schmidt-Glintzer erklärt, in heutigen chinesischen Sinnstiftungsprozessen auch Kulte und diverse religiöse Deutungstraditionen lebendig, sodass sie tiefe Wurzeln haben.

»Der Edle und der Ochse« – mit dem Buchtitel bringt Helwig Schmidt-Glintzer das tradierte Bild des Ochsen ins Spiel, »für den sich abmühenden Staatsdiener, der keine Anerkennung erfährt«, doch seiner Verantwortung fürs Ganze treu bleibt. Und er zitiert den Professor für Ostasienwirtschaft Markus Taube: »Ohne die treibende Kraft dezentraler polit-ökonomischer Unternehmer, die die bestehenden Ordnungsstrukturen immer wieder in Frage gestellt haben …, wäre das ›chinesische Wirtschaftswunder‹ nicht realisiert worden.« Wobei das Wirtschaftswunder eben nicht Selbstzweck ist. Wenn das Ziel der KPCh in einem Sozialismus neuer Prägung besteht, darf der Staat eben nicht vom kapitalistischen Tiger geritten werden, sondern muss das Kunststück fertigbringen, den kapitalistischen Tiger zu reiten.

Da gibt uns der Autor dieses Buches mit einem Spruch des Philosophen, Sinologen und Übersetzers Fabian Heubel zu denken: »Ein Weg, um Europäer zu werden, ist, Chinese zu werden.« Tatsächlich, so meine ich, wäre vieles von China zu lernen, und das uralte Prinzip des »Tianxia« – alles unter einem Himmel – könnte Modell sein für eine Welt, um zusammen mit dem Imperialismus ihre kriegerischen Auseinandersetzungen zu überwinden.

Helwig Schmidt-Glintzer: Der Edle und der Ochse. Chinas Eliten und ihr moralischer Kompass. Matthes & Seitz, 125 S., br., 14 €.

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