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  • Ultras im Fußball

Die Radikalisierung der Fankurve

Viele Vorfälle in der noch jungen Saison zeigen, wie vor allem jüngere Ultras die Gewalt und Nähe zu Hooligans suchen

  • Christoph Ruf
  • Lesedauer: 6 Min.
Missbrauchte Freiheit: Gewaltsuchende Dresdner Fans richteten während der zweiten Halbzeit und nach dem Spiel in Bayreuth großen Schaden an.
Missbrauchte Freiheit: Gewaltsuchende Dresdner Fans richteten während der zweiten Halbzeit und nach dem Spiel in Bayreuth großen Schaden an.

Immer dann, wenn im Fußball eine neue Spielzeit seit ein paar Wochen begonnen hat und irgendwo in der Republik Fangruppen aufeinandergeprallt sind, fällt das Schlagwort von der »neuen Dimension der Gewalt«. Beschworen wird die meist von Polizeivertretern, rechtsgerichteten Politikern oder Talkshow-Redakteurinnen, die auf ein quotenträchtiges Thema setzen. Diesmal, im Herbst 2022, ist einiges anders. Zum einen machen sich nicht die üblichen Verdächtigen von der repressiven Seite Sorgen, sondern Deutschlands wohl bekanntester Fansozialarbeiter Michael Gabriel. »Es findet eine Verschiebung statt, die Ultras, die gewaltbereit sind, bekommen mehr Einfluss und gewinnen mehr Follower«, sagte der Vorsitzende der Kos, der Dachverband der sozialarbeiterisch tätigen Fanprojekte, in einem Interview mit der »FAZ«.

Zum anderen ist die Liste der Vorfälle, die sich innerhalb weniger Wochen ereignet haben, zu lang, um sie zu ignorieren: Beim Spiel in Magdeburg schossen Ende August Hannoveraner Fans eine Rakete in den angrenzenden Heimblock. Die Ordner verhinderten eine Schlägerei im Innenraum. Anfang September prügelten sich auf den Tribünen in Nizza Kölner Hooligans, die von befreundeten Hools aus Paris unterstützt werden, mit Einheimischen. Kurz darauf kam es in Marseille zu brutalen Ausschreitungen zwischen Anhängern von Olympique und Frankfurter Fans. Und als Borussia Dortmund Anfang September zu Hause gegen den FC Kopenhagen spielte, kam es bereits am Vortag zu Prügeleien, während des Spiels flogen Leuchtraketen vom Gästeblock in den Heimbereich.

Wie in Nizza und Magdeburg machten Augenzeugen auch hier »Krawalltouristen« aus, in diesem Fall aus Hamburg. Auch beim Spiel Malmö FF gegen den 1. FC Union Berlin wurde eine Rakete in den Heimblock geschossen – die Union-Ultras, aus deren Reihen das offenbar nicht praktiziert wurde, distanzierten sich davon.

Besonders traurig: Als Dynamo Dresden Anfang Oktober in Bayreuth spielte, hatten der Heimverein und die örtliche Polizei genau das getan, was Fansozialarbeiter und die aktive Fanszene seit Jahren immer wieder fordern. Sie hießen die Gäste als Gäste willkommen und gaben ihnen die Möglichkeit zu zeigen, dass das negative Image der Dynamo-Szene ein Zerrbild darstellt. Und tatsächlich hielt sich die Polizei im Hintergrund – und versuchte selbst dann noch zu deeskalieren, als sie aktiv von Dresdner Fans angegriffen wurde. Insgesamt wurden 14 Polizisten verletzt, eine Imbissbude zerstört, eine Kasse geklaut, zudem gab es einen Angriff auf einen Journalisten. Am Donnerstag kündigte der Verein nun an, er werde »nach den Geschehnissen in Bayreuth nicht einfach zur Tagesordnung übergehen« und Auswärtstickets in den kommenden Spielen nur noch an Mitglieder ausgeben.

Augenzeugen berichteten auch aus Bayreuth, dass die Täter nicht primär aus der Ultraszene kamen. Doch dass – wie möglicherweise bereits beim Union-Spiel in Malmö – am Rande der eigentlichen Hauptszene erlebnisorientierte Fans ihre eigenen Regeln aufstellen und weder szeneinterne Gepflogenheiten noch Absprachen mit dem eigenen, angeblich ja so geliebten Verein einhalten, ist eben eine der neueren Entwicklungen, die den Fansozialarbeiterinnen an vielen Standorten Sorge machen. Zumal es in den vergangenen Wochen zu mehreren Vorfällen kam, die von einer größeren Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen wurden, die aber die Fanprojekte vor Ort durchaus alarmieren. So gab es Zugüberfälle in Niedersachsen und Thüringen sowie bereits im April den Überfall auf Fürther Fans im mittelfränkischen Emskirchen. Leider ließen sich noch weitere Beispiele aufzählen.

Hinter vorgehaltener Hand heißt es in mehreren Fanszenen, führende Ultragruppen hätten an mehreren Standorten derzeit ihre liebe Mühe, den Laden beisammenzuhalten. Das könnte eine Folge der Corona-Pandemie im Fußball sein, während der ja auch die Fankurven meist noch länger verwaist blieben als der Rest des Stadions, weil die Ultras erst dann wieder ins Stadion wollten, als alle Fans ohne Kapazitätsbeschränkungen zugelassen wurden.

Viele Experten hatten prognostiziert, dass zahlreiche Ultras danach wegbleiben würden, entweder weil sie andere Interessen entwickelt haben, oder weil sie das Gesicht, das der Profifußball während der Pandemie zeigte, abgeschreckt hat. Das ist flächendeckend nicht geschehen. Doch offenbar sind vor allem viele Jüngere mit dem Wunsch ins Stadion zurückgekehrt, die Grenzen zu verschieben. Michael Mertens, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, hat jüngst ein paar Forderungen aufgestellt, die auch nicht jeder im eigenen Apparat hilfreich fand. Seine Beobachtung, es gebe unter den gewaltbereiten Fans einen »Nachholbedarf beim Austoben« ist aber nicht aus der Luft gegriffen: »Das war schon beim Ende der letzten Saison so, das geht in der neuen weiter.«

Tatsächlich scheinen Choreographien und das Gruppenerlebnis als solches vielen zu langweilig geworden zu sein. Stattdessen könnten Gruppentreffen mancherorten mittlerweile auch gleich im Anschluss ans Krafttraining stattfinden, weil sich ganze Szenen »aufpumpen«, um bei der nächsten Auseinandersetzung mit einer rivalisierenden Szene gut auszusehen. Das Stadtderby zwischen dem Hamburger SV und St. Pauli war schon immer emotionsgeladen, eine strikte Fantrennung immer schon eine gute Idee. Nur dass – wie am vergangenen Wochenende geschehen – vor zehn Jahren nicht so viele Fans des FC St. Pauli den Versuch gemacht hätten, den Fanmarsch des großen Rivalen anzugreifen. Eine Rechtfertigung für die offenbar exzessive Polizeigewalt im Anschluss ist das natürlich nicht.

Darauf, dass sich die Statik in den Fankurven derzeit ändert, deutet auch die Tatsache hin, dass dort die Transparente der Hooligans wieder sehr nah an denen der größten Ultragruppe hängen.

Man muss kein konservativer Scharfmacher sein, um die jüngsten Ereignisse alarmierend zu finden. Es reicht, so wie Michael Gabriel seit vielen Jahren zum Fußball zu fahren und genau zu beobachten, was derzeit passiert: »Die Bilder, die wir in Nizza, in Marseille, aber auch beim Spiel Hannover gegen Magdeburg gesehen haben, die können auf Dauer dafür sorgen, dass Menschen, die Freude durch den Fußball haben wollen, sich nicht mehr ins Stadion wagen«, fürchtet der Kos-Leiter, der eine Forderung an die Vereine nachschiebt: »Es ist wichtig, dass man sich nicht scheut, die eigene Fanszene für Fehlverhalten auch öffentlich zu kritisieren. Das ist ein Zeichen, das die anderen Fans erwarten, die die Handlungen der Gewaltbereiten ablehnen.«

Dass es bis zu dieser Erkenntnis mancherorts noch ein weiter Weg ist, zeigen derweil die Vorkommnisse vor dem DFB-Pokalspiel von Waldhof Mannheim gegen den 1. FC Nürnberg. Am Dienstag widmete der Mannheimer Stadionsprecher Stephan Christen das Verlesen der Aufstellung der Heimelf am Mikrofon dem kürzlich verstorbenen, mehrfach vorbestraften Neonazi und Waldhof-Hool Christian Hehl: »Das ist für dich, Hehli.« Dass der Mann, der seit 29 Jahren Stadionsprecher beim SVW ist, nicht wusste, wer Hehl ist, halten Fans des Drittligisten für komplett ausgeschlossen. Christen, der den früheren NPD-Stadtrat vor der nach dem ehemaligen Mannheimer Spieler und NS-Gegner Otto Siffling benannten Fantribüne ehrte, ist mittlerweile zurückgetreten.

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