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Die Polizei am Zeugentisch
Helden oder Stümper: Welche Rolle die Polizei spielte, ist eine der Fragen, die der Prozess gegen den Attentäter von Halle offenließ
»Vielen Dank für Ihren Einsatz«, beginnt die Nebenklägerin Iona B., als sie sich am 13. Verhandlungstag des Prozesses gegen den Attentäter von Halle direkt an den Polizisten Daniel L. richtet, der wenige Meter vor ihr am Zeugentisch sitzt. Ob sie ihn richtig verstanden habe, dass er die Kritik an der Polizei, die viele Betroffene geäußert hatten, nicht nachvollziehen könne, fragt die Frau, die den Anschlag auf die Synagoge in Halle überlebte.
Der 33-jährige Polizist, groß gewachsen, Karohemd, der am Tattag mit dem ersten Streifenwagen am Kiez Döner eingetroffen war, ist von der Frage sichtlich getroffen: In den Minuten zuvor hatte er berichtet, wie seine beiden Kolleg*innen und ihn am Tattag mehrere Funksprüche über Schüsse in Halle erreicht hätten, sie schwere Ausrüstung angelegt und zum Tatort geeilt seien – noch nie habe er seine Kollegin so schnell fahren sehen. Er schilderte auch, wie er dann das Feuer des Angeklagten auf den Streifenwagen erwidert habe, dass er tagelang nicht habe schlafen können und dass er, wie auch seine damaligen Kolleg*innen, heute nicht mehr im Außendienst tätig sei – auch wenn das nichts mit der Tat zu tun habe.
Am 9. Oktober 2019, dem jüdischen Feiertag Jom Kippur, griff ein rechtsextremer Terrorist die Synagoge in Halle (Saale) sowie einen Döner-Imbiss an und ermordete dabei zwei Menschen. Der Prozess gegen den Attentäter endete im Dezember 2020 mit dem Urteil zu lebenslanger Haft. Die Verhandlung wurde vom Verein democ. Zentrum demokratischer Widerspruch beobachtet und im Buch »Der Halle-Prozess: Mitschriften« 2021 dokumentiert. Nun erscheint der Band »Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven«.
Die Kritik an der Polizei könne er darüber hinaus nicht teilen: »Wir haben alles gegeben, was wir hatten und wir haben alle so etwas noch nie erlebt«, erwidert er mit Nachdruck auf die Rückfrage der Nebenklägerin B. Das sei ihr klar, versucht diese es erneut, sie wolle ihn auch nicht persönlich kritisieren. Ruhig und zugewandt präzisiert sie, dass es ihr vielmehr darum gehe, dass er die Kritik an der Kommunikation oder dem fehlenden Schutz der Opfer vor der versammelten Presse nach der Tat doch nicht vom Tisch wischen könne. Der Polizist L. lenkt ein, die Kritik könne er verstehen, er sei ja nicht dabei gewesen, doch die Vorsitzende Richterin unterbricht den Dialog entschieden: Für diese Kritik, so Ursula Mertens zur Nebenklägerin, sei L. nicht der richtige Ansprechpartner, wenn sich die Nebenklägerin mit ihm darüber unterhalten wolle, sei die Sitzungspause die richtige Gelegenheit.
Diese Szene war kein Einzelfall: Als Betroffene eines Mordversuchs, als Zeug*innen des Tatgeschehens oder als Ermittler*innen und damit als Repräsentant*innen der staatlichen Reaktion auf rechten Terror sagten knapp 30 Polizist*innen im Halle-Prozess öffentlich aus. Nicht immer fiel es leicht, diese Rollen auseinanderzuhalten – offenbar auch den Beamt*innen selbst nicht. Öfters kollidierten so die Erwartungshaltungen an die anwesenden Einsatzkräfte mit deren Selbstverständnis; das Gericht verschärfte diese Spannungen teils, indem es selbst Position bezog.
Opfer wie Verdächtige behandeln
Die Liste der Kritikpunkte an der Polizei war lang; diejenigen Polizist*innen aber, an die sie sich primär richtete, erschienen nur selten im Gerichtssaal: So kritisierten mehrere Nebenkläger*innen und Zeug*innen sowohl das Verhalten der Polizist*innen am Tattag als auch die sich anschließenden polizeilichen Ermittlungen. Christina Feist, die den Angriff erlebte, berichtete, sie hätten in der Synagoge vonseiten der Polizei »keinerlei Kommunikation oder Informationen« zum aktuellen Stand des Geschehens erhalten. Sie kritisierte den scharfen Ton einiger Beamt*innen und das fehlende Verständnis gegenüber den jüdischen Betroffenen. So habe ein Polizist etwa skeptisch »Das ist aber komisch!« gesagt, als sie mitteilte, dass sie wegen des Feiertags Jom Kippur keine Gegenstände bei sich trage.
Rabbiner Jeremy Borovitz schilderte in seiner Zeugenaussage, wie die Polizei den jüdischen Betroffenen zunächst verboten habe, koscheres Essen aus der Synagoge mitzunehmen, und erst nach langen Diskussionen gestattete, die Lebensmittel unter Aufsicht der Polizei in kleine Tütchen umzupacken und mit hinauszunehmen. Im Anschluss hätten die Betroffenen dann lange in einem Linienbus warten müssen, der zur Evakuierung herangeholt worden war, und seien dort den Blicken vieler Schaulustiger, Fotograf*innen und Kamerateams ungeschützt ausgesetzt gewesen.
Christina Feist berichtete, dass sie von einem Polizisten kurz darauf schroff gefragt worden sei, was »die da drinnen« singen würden, als im Bus das Lied »Am Israel Chai« angestimmt worden sei. Sie habe daraufhin angefangen, den Text zu übersetzen, worauf ihr der Polizeibeamte mit »Ja, also Israelis …« ins Wort gefallen sei. Ihre Erklärungen zum Unterschied zwischen Israelis und nicht-israelischen Juden hätten ihn dann eher belustigt.
Agata M., die sich ebenfalls während des Anschlags in der Synagoge aufgehalten hatte, berichtete, wie den Besucher*innen der Synagoge Nummern zur Identifikation zugeteilt worden seien: »Ich entschuldige mich, dass ich das immer wieder hervorhebe, aber für mich hat es eine sehr große Bedeutung gehabt, weil ich an die Zeit aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert wurde.« Sie seien »wie Verdächtige und nicht wie Opfer« behandelt worden, fasste Rabbiner Borovitz in seiner Zeugenaussage das Verhalten gegenüber den Betroffenen zusammen.
Als »empathiefrei« beschrieb Conrad R., der den Angriff auf den Kiez Döner überlebte, das Vorgehen der Polizei: Kurz nachdem er auf der Toilette des Lokals, in der er Zuflucht gesucht und in Todesangst eine Abschiedsnachricht an seine Familie geschrieben hatte, habe er den Notruf gewählt. Dort sei ihm schroff entgegnet worden, man wisse bereits Bescheid, und er solle doch lauter sprechen, ehe schnell aufgelegt worden sei. Auch die Befragungen kurz nach der Tat seien frei von jedem Mitgefühl und unfreundlich gewesen. Am Ende habe man R. ohne jede Begleitung oder Hilfe nach Hause geschickt.
Ein bestürzendes Bild von der Polizeiarbeit ergab sich auch aus den Zeugenaussagen zum Tatort Wiedersdorf. Die Betroffenen Dagmar M. und Jens Z. schilderten, wie ihnen beim Absetzen des Notrufs zunächst nicht geglaubt worden sei und wie unsensibel sich die Polizei später verhalten habe: Nachdem der Angeklagte auf sie geschossen hatte, weil er einen Autoschlüssel von ihnen hatte bekommen wollen, sei sie im Krankenwagen von einem Polizisten angeschrien worden, sie solle ihm den Autoschlüssel geben, berichtete Dagmar M. Sie habe diesen dann aus der blutigen Hosentasche gezogen. Auf ihre Nachfrage hin, habe der Polizist sie noch angeblafft, es gehe sie gar nichts an, wofür er den Schlüssel brauche.
Ermittlungsversagen
Verstört wirkten einige Nebenkläger*innen zudem von dem Bild, das sie von der Ermittlungsarbeit der Polizei gewannen; insbesondere die Ermittlungen zum Umfeld des Angeklagten in der analogen und digitalen Welt erschienen vielen Betroffenen halbherzig geführt worden zu sein. Obwohl der Angeklagte Hunderte Stunden auf Online-Spieleplattformen und -Boards verbracht hatte, gelang es der Polizei in keiner Weise, dortige Kontakte zu ermitteln. Dies lag zum einen an der Unerfahrenheit und fehlenden Kompetenz der teils durchaus engagierten Ermittler*innen. So wurde mit der Auswertung des Spieleverhaltens etwa eine Polizeiangestellte betraut, die nach eigener Aussage keine besonderen Kenntnisse in diesem Bereich habe und ihre oberflächlichen Recherchen damit entschuldigte, dass sie »keine Gamerin« sei. Ebenso offenbarten fehlerhafte Einschätzungen zum Wert vermeintlicher Bitcoin-Transaktionen des Angeklagten die Ahnungslosigkeit einiger Ermittler*innen auch in diesem Bereich.
Zum anderen gab es offenkundig auch Nachlässigkeiten der Ermittlungsführer*innen. So sei etwa der Betreiber des Boards, auf dem der Angeklagte Dokumente zur Tat und den Link zu seinem Livestream veröffentlichte, lediglich per E-Mail nach der zum Posting dazugehörigen IP-Adresse und den Adressen möglicher Kontakte des Angeklagten befragt worden. Als dieser geantwortet habe, die entsprechenden Daten seien gelöscht worden, habe man diese Spur nicht weiterverfolgt. Zu dem Betreiber hatte die Ermittler*innen überhaupt erst die Recherche des ZDF-Magazins »Frontal 21« geführt: Der Mann berichtete, dass er die erwähnte Mail vom BKA am 16. Oktober 2019, also eine Woche nach der Tat, erhalten habe. Das Fernsehteam hatte ihn bereits vorher aufgespürt und in der Sendung vom 15. Oktober kritisiert, dass das BKA ihn noch nicht gefunden habe.
Auch die Einordnungen zur Ideologie des Angeklagten überließ man beim BKA größtenteils jungen Ermittler*innen, die vor Gericht einräumen mussten, sich ihr Wissen zum Rechtsextremismus erst im Zuge der Ermittlungen angeeignet zu haben. Während diese Polizist*innen zumindest einen motivierten und engagierten Eindruck machten und selbst mit den Grenzen ihrer Möglichkeiten und Befugnisse zu hadern schienen, legten andere Ermittler*innen im Prozess einen verstörenden Auftritt hin. So genoss etwa der Kriminalhauptkommissar Michael B., der als Sachverständiger für die Schusswaffen des Angeklagten auftrat, das Fachsimpeln mit dem Angeklagten und einem Nebenklagevertreter über die technischen Möglichkeiten der Waffen und die Fähigkeiten des Angeklagten sichtlich, wobei die drei Männer grinsend auf ihre jeweiligen Erfahrungen, offenbar aus der Zeit des Wehrdienstes, Bezug nahmen. Den Verwendungszweck einer vollautomatischen Waffe beschrieb der Sachverständige mit den Worten »Einmal rein in den Feind, Magazin leer schießen, wieder raus«, wobei er mit den leeren Händen andeutete, eine Waffe zu tragen und sich bei den Worten »Magazin leer schießen« einmal im Halbkreis in Richtung der Nebenklage drehte.
»Wie kann ein Mann sein eigenes Waffenarsenal bauen, zwei Menschen umbringen, zahlreiche weitere verletzen und zu ermorden versuchen, ohne dass seine Motivation, das Umfeld, das ihn geprägt hat, minutiös analysiert werden?«, fragte die Nebenklägerin Jessica W.-E. in ihrem Schlussstatement. Die Nebenkläger*innen und das Rechercheteam des Projekts Global White Supremacist Terror: Halle, das eine sogenannte »Time Map« zum Anschlag von Halle erstellte, hätten ehrenamtlich bessere Arbeit geleistet als der große Polizeistab.
Gerade diejenigen aber, an die sich Kritik primär richtete, traten im Verhandlungssaal nicht in Erscheinung. So wurden, abgesehen von den Polizist*innen, die selbst Opfer wurden, keine Einsatzkräfte in den Zeugenstand gerufen, die am Tattag in Kontakt mit den Opfern kamen. Dies galt zum einen für die Polizist*innen, die zuerst an der Synagoge eintrafen und sich nicht um die Verletzte Jana L. gekümmert haben sollen. Nur beiläufig wurde thematisiert, dass gegen eine Polizistin ein gesondertes Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung laufe. Die Vorsitzende Richterin Mertens gab an, davon in der Zeitung gelesen zu haben. Zum anderen wurden aber auch die Polizist*innen ausgeklammert, die den Erstkontakt zu den Betroffenen in der Synagoge, im Kiez Döner und in Wiedersdorf gehabt hatten und für ihr unsensibles Vorgehen kritisiert worden waren.
Auch die Kritik an den strukturellen Versäumnissen der Ermittler*innen fand meist nicht direkt ihre Adressat*innen und konnte sich nur an die Öffentlichkeit richten: Die jeweiligen Polizist*innen wurden nicht als Zeug*innen geladen. Ein ums andere Mal beteuerten junge Bedienstete des BKA glaubhaft, dass sie sich nur an die strikten Anweisungen gehalten hätten, wenn etwa der sehr enge Fokus auf Teilaspekte der Tat, die sie zu untersuchen hatten, kritisiert wurde. Wo diese Ermittlungsfäden zusammenliefen, wer die Verantwortung dafür trug, ein umfassendes Bild der Tat und ihrer Hintergründe zu gewinnen, blieb offen. Auf die Frage nach Vorgesetzten oder Ermittlungsführer*innen reagierten die Zeug*innen ausweichend oder verwiesen auf die fehlende Aussagegenehmigung, die sie von ihrem Dienstherrn bräuchten, um darüber vor Gericht sprechen zu dürfen.
»Botschaftstaten«
Zu einem Ort der Auseinandersetzung zwischen Betroffenen und Ermittler*innen, aus der Verständnis füreinander hätte erwachsen können, wurde der Gerichtssaal so nicht. Wenn die Betroffenen aus Synagoge, Kiez Döner oder Wiedersdorf unmittelbar betroffene Polizist*innen abstrakt in ihrer Rolle als Vertreter*innen der Ermittlungsbehörden adressierten und Kritik äußerten, sprang die Vorsitzende Richterin Mertens den Polizist*innen schnell zur Seite. Wo sie junge Ermittler*innen des BKA zu Unrecht unter Druck gesetzt sah, leistete sie gar Argumentationshilfe gegenüber den nachhakenden Anwält*innen der Nebenklage und verwies vorauseilend auf deren begrenzten Ermittlungsauftrag und den Zeitdruck.
Zur Sprache kommen sollen in der Beweisaufnahme, während derer sich die beschriebenen Szenen abspielten, laut Strafprozessordnung alle Tatsachen und Beweismittel, »die für die Entscheidung von Bedeutung sind«. Die Meinungen darüber, was das im Einzelnen ist, gingen zwischen den Verfahrensbeteiligten indes weit auseinander: So trat etwa Jan Siebenhüner, der Nebenklageanwalt des Polizisten Daniel L., vehement dafür ein, sich im Prozess eng auf den Angeklagten zu konzentrieren und weitergehende Fragen zu den Umständen der Tat zu untersagen. Mehrere Betroffene und ihre Rechtsbeistände verteidigten hingegen die Einschätzung, dass die Kritik an der Polizei gerade auch in der Hauptverhandlung ihren Platz haben müsse. Faktisch stellte die Öffentlichkeit der Verhandlung für viele Betroffene eine der wenigen Möglichkeiten dar, ihren Gedanken und Gefühlen zur Tat, deren Begleitumständen und dem Umgang mit ihnen als Betroffene prominent Raum zu geben.
Es scheint daher naheliegend, dass gerade der Umgang der Verfahrensbeteiligten mit diesen Aussagen einen wesentlichen Anteil daran hat, inwiefern der Strafprozess sein Versprechen von der Wiederherstellung eines Rechtsfriedens einlösen kann. Der Sachverständige Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) beschrieb Taten wie den Anschlag von Halle und Wiedersdorf als »Botschaftstaten«, die immer auch darauf abzielten, alle Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus einzuschüchtern, zu verunsichern und nach Möglichkeit gesellschaftliche Spannungen zu evozieren. Wie sehr dies gelänge, hinge stets von dem gesellschaftlichen Rahmen ab, in dem die Tat stattfinde. Auch das Agieren der Einsatzkräfte, gerade im Umgang mit Spezifika der antisemitischen, rassistischen und misogynen Dimension der Tat, ist aus dieser Perspektive von großer Bedeutung. Wäre die Hauptverhandlung ein Ort, an dem Kritik daran in ihrer Relevanz anerkannt würde, könnte dies zum Rechtsfrieden beitragen und zudem womöglich konkrete Verbesserungen der Ermittlungsstrukturen begünstigen.
Ein Blick nach Hessen zeigt Zustände, die drohen, wenn eine rechtsstaatliche öffentliche Verhandlung nach rassistischen Morden ausbleibt: Nachdem sich der Rechtsterrorist von Hanau, der dort am 19. Februar 2020 neun Menschen erschossen hatte, das Leben genommen und ein Verfahren gegen ihn damit unmöglich gemacht hatte, ermittelte die Bundesanwaltschaft anderthalb Jahre gegen Unbekannt, um mögliche Mitwisser*innen oder Unterstützer*innen auszumachen. Das Verfahren wurde im Dezember 2021 eingestellt. Die Kritik der Angehörigen der Opfer und der Überlebenden an den zahlreichen Fehlern der Behörden vor und nach der Tat fand so nie die Öffentlichkeit eines Gerichtssaals. Während der Vater des Täters die Opfer diffamiert und die Nachbarschaft in Schrecken versetzt, leiden die Hinterbliebenen der Opfer neben ihren unersetzlichen Verlusten zusätzlich unter den wohl für immer offenbleibenden Fragen und kämpfen darum, gehört zu werden. Letzteres geschieht seit Juli 2021 zumindest im Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags.
Gesellschaftliche Deutungshoheit
Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens hörte in Magdeburg zu. In einer wohl beispiellosen Art und Weise gab sie den Betroffenen Raum, ihre ganz persönlichen Geschichten des Anschlags zu erzählen, wandte sich ihnen empathisch zu, telefonierte Betroffenen mit der Frage hinterher, ob sie aussagen wollten.
Alles, so schien es meist, was diesen wichtig erschien, konnten sie sagen: Nur wenn die Kritik an der Polizei zu scharf ausfiel, griff Mertens ein und bezog so unnötig Position in einem Konflikt, der nicht der ihre war und von dem niemand erwartete, dass sie ihn auflöst. Juristisch war das nicht zu beanstanden, hatte sie schließlich weder über die Betroffenen noch über die kritisierten Polizist*innen zu urteilen, sodass sie auch keine Neutralität zu wahren hatte. Sicherlich riss sie bei einigen Betroffenen und Beobachter*innen damit aber ein, was sie zuvor mit ihrer behutsamen Prozessführung aufgebaut hatte. Ihre Motivation blieb unklar; die von einigen Nebenklagevertreter*innen immer wieder vorgetragene Formel, der zufolge ein Staatsschutzsenat zuallererst den Staat schütze, schien zuzutreffen. Teils wirkte es gar zu reflexhaft und unbeholfen, wie Mertens die Polizei in Schutz nahm – die Wirkung auf die Betroffenen scheint sie nicht antizipiert zu haben.
In der mündlichen Urteilsbegründung am letzten Verhandlungstag buchstabierte Mertens ihren eigenen Blick auf die Polizist*innen dann explizit aus. So wollte sie etwa bezüglich der jungen Polizistin, die am Tattag zuerst an der Synagoge eintraf und wegen der unterlassenen Ersten Hilfe an Jana L. auch im Prozess heftig kritisiert worden war, einen Perspektivwechsel anregen: Ganz allein sei sie am Tatort geblieben und habe diesen abgesichert, obwohl niemand gewusst habe, ob sich weitere Täter oder Sprengsätze in der Nähe befanden. Sie habe sich damit »heldenhaft« verhalten.
»Nach dem Urteil haben wir so viele Helden bei der Polizei, dass einem Angst und Bange wird«, wies Nebenklageanwalt Mark Lupschitz diese Argumentation bei einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude nach der Urteilsverkündung zurück. Er wolle keine Helden bei der Polizei, sondern Menschen, die besonnen ihre Arbeit täten. Er kenne zahlreiche Feuerwehrleute, die ihr Leben aufs Spiel setzten, noch nie habe er aber gehört, dass sie sich im Einsatz von der Angst um ihr eigenes Leben hätten leiten lassen, wie es einige Polizist*innen in Halle getan hätten. Als das »Frechste, was ich jemals von einem Staatsschutzsenat gehört habe«, bezeichnete Nebenklagevertreterin Kristin Pietrzyk bei dieser Kundgebung die Anregung zum »Perspektivwechsel«.
Unausgesprochen knüpfte sie mit ihrer Zurechtweisung des Gerichts auch an Diskussionen um polizeiliche Versäumnisse bei der Aufarbeitung anderer rechter Anschläge oder die hierzulande von der Black-Lives-Matter-Bewegung ausgelösten Debatten über Polizeigewalt an. Angesichts des gerichtlichen Umgangs mit der Kritik am Polizeiverhalten im Fall des Attentats von Halle erinnerte Pietrzyk allgemeingültig daran, dass dem Staatsschutzsenat lediglich das Urteil über die Schuld des Angeklagten zustehe – die Deutungshoheit über die politischen Hintergründe der Tat aber liege »bei uns in der Gesellschaft«.
Der Text ist ein Vorabdruck aus dem Sammelband Christina Brinkmann/Nils Krüger/Jakob Schreiter (Hg.): Der Halle-Prozess: Hintergründe und Perspektiven. Spector Books, 350 S., geb., 26 €. Der Band erscheint im November.
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