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Kein Zug wird kommen
Die Niederbarnimer Eisenbahngesellschaft lässt Pendler und Touristen zwischen Kostrzyn und Berlin im Regen stehen
Nein, Presseanfragen zur Baustellensituation auf der Bahnstrecke der RB26 zwischen Berlin und Kostrzyn will die Geschäftsführung der Niederbarnimer Eisenbahngesellschaft (NEB) vorerst nicht beantworten. Intern – auch in Vorbereitung auf einen Runden Tisch – werde die Situation erst noch einmal aufgearbeitet, teilt Sprecher Holger Riemann auf nd-Anfrage mit.
Man könnte es dem Unternehmen nachsehen, denn besagter Runder Tisch, der für diesen Montag in Müncheberg (Märkisch-Oderland) angesetzt ist, soll dazu beitragen, ein Problem zu lösen, bei dem die NEB eine unrühmliche Rolle spielt: Seit mindestens zwei Monaten ist der Zugverkehr auf der »Ostbahn« genannten Strecke zwischen Berlin und Kostrzyn nämlich eine mobile Katastrophe für richtig viele Menschen. Und das täglich.
Die RB26 fährt hier unter dem Namen »Oderlandbahn« als einzige regelmäßig verkehrende grenzüberschreitende Verbindung im Regionalverkehr des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB). Die NEB wirbt auf ihrer Webseite damit und preist die zahlreichen attraktiven Ausflugsziele in der Region und entlang der Strecke, aber auch die Möglichkeit zur Fahrt ins polnische Landesinnere. »Der nahe Ostkreuz gelegene Berliner Ostbahnhof war der ursprüngliche Ausgangs- und Endpunkt der 1867 in Betrieb genommenen Bahnstrecke in Richtung Osten«, zeigt man sich auch historisch bewusst. Und dann: »Achtung: Ab sofort gibt es leider eine Einschränkung. Bis voraussichtlich Ende 2022 wird an den Gleisen und Eisenbahnbrücken im Grenzbereich gebaut. Der Zugverkehr über die Grenze ist in diesem Zeitraum nicht möglich. Zwischen Küstrin-Kietz und Kostrzyn wird daher ein Ersatzverkehr mit Bussen eingerichtet.«
Was zunächst nach einer kleinen Unbequemlichkeit klingt, hört sich aus der Perspektive zahlreicher Pendler*innen von polnischer Seite allerdings verstörend an. Vor allem viele Frauen stehen ohnehin schon unter enormem Druck, rechtzeitig zu ihren Arbeitsstellen in Berlin zu kommen – es drohen Lohnausfall und das Nachholen der Stunden. Ihr bereits unter normalen Bedingungen langer Arbeitsweg wird nun zur Odyssee, die mitunter bis zu sieben Stunden dauert, heißt es in sozialen Medien, in denen Betroffene schildern, was ihnen derzeit widerfährt. Eine zu diesem Zweck eingerichtete deutsch-polnische Facebook-Gruppe ist innerhalb von vier Wochen auf knapp 550 Mitglieder angewachsen.
Zunächst müsste man demnach auf der polnischen Seite »einen Sitz- oder Stehplatz ergattern«. Andere müssten auf den folgenden Bus warten, der erst eine Stunde später kommt, »wobei dann der nächste Kampf um einen Platz beginnt«. Angekommen in Küstrin-Kietz geht es dann mit dem nächsten Schienenersatzverkehr-Bus weiter. Häufig werde schon hier der Anschluss verpasst, oder ein Bus komme nicht – das bedeutet immer eine weitere Stunde Wartezeit. »Verpasst man auf der Rückreise nochmals einen Anschluss, sind es bereits zwei Stunden zusätzliche Fahrtzeit«, schreibt jemand.
Von Küstrin-Kietz nach Müncheberg werde der Bus dann zunehmend voller, es käme zu Konflikten und Auseinandersetzungen, vor allem zwischen deutschen und polnischen Fahrgästen. »Die Menschen halten es kaum aus in den überfüllten Bussen. Die Busfahrer scheinen sich dafür nicht zu interessieren. Streng genommen dürften sie wahrscheinlich in Kostrzyn aus Sicherheitsgründen mit dem maßlos überfüllten Bus gar nicht erst losfahren«, vermutet man. Und schimpft auf die NEB: »Die Menschen fahren zu ihrer harten Arbeit und nicht ins Spa!«
Viele Pendler*innen nutzten die Zugfahrt bisher, um sich auszuruhen oder um etwas Schlaf nachzuholen. Nun haben sie am Morgen schon keine Ruhe und bleiben bis zum Abend im Ungewissen darüber, wie die Rückreise verlaufen wird. Eine junge Frau, die sonst in Kostrzyn in den Zug steigt, berichtet, dass sie derzeit um 5 Uhr aufstehe und erst um 22 Uhr wieder nach Hause kommt. Eine andere erlebt dasselbe – ihr Kind wartet derweil auf sie. Einmal kam sie erst um 3 Uhr morgens wieder zu Hause an.
Ob nach der Bustortur in Müncheberg der Zug planmäßig fährt, ist nicht gesagt. Informationen über Zugausfälle sind rar, in den Apps der Deutschen Bahn und des VBB stimmen die Informationen nicht immer überein. »Es hat Neuigkeitswert, wenn jemand erzählt: ›Heute fuhr der Zug normal‹«, sagt Friederike Fuchs zu »nd«. Fuchs wohnt im Müncheberger Ortsteil Dahmsdorf. Ihr Partner pendelt jeden Tag nach Berlin zur Arbeit, Fuchs selbst arbeitet meist in Müncheberg. Sie kennt mittlerweile sehr viele Menschen aus der Gegend, die an der Situation verzweifeln, wenn sie nicht auf individuelle Fahrzeuge ausweichen können.
Ende September hat die Architektin gemeinsam mit anderen Betroffenen ein Zeichen gesetzt und eine Protestkundgebung am Ersatzbahnsteig in Müncheberg organisiert – wo die Durchsagen nicht zu hören sind und es Schutz vor Sonne oder Regen für zwei, drei Menschen gibt. Dabei stehen hier stündlich Dutzende. Immerhin kam so ein Teilerfolg zustande: die Einberufung des Runden Tisches, an dem neben Vertreter*innen von Betroffenen und Einrichtungen auch Landrat Gernot Schmidt (SPD) und die NEB selbst teilnehmen. Als Initiator zeichnet Frank Schütz (CDU), der Bürgermeister von Golzow, der hier aber für die Interessengemeinschaft Ostbahn (IGOB), eine zuletzt wohl etwas eingeschlafene Initiative, sitzen wird.
Derweil wächst die Zahl der Beschwerden und Forderungen nach einem zuverlässigen Nahverkehr. Diese kommen mittlerweile aus dem ganzen Landkreis. Vom Campus Schloss Trebnitz heißt es: »Die Bahn ist unsere Lebensader.« Ein Großteil der Gäste – Schüler*innen aus Austauschprogrammen, Seminarteilnehmende, Fachbesucher*innen – erreiche die historische Gutsanlage, die zum Bildungsort umgebaut wurde, derzeit kaum mehr. Die in Hoppegarten ansässige LAG Märkische Seen beklagt die fehlenden Tagesgäste und weist darauf hin, dass Inhaber*innen von Monatskarten eine bezahlte Leistung vorenthalten werde. Der Amtsdirektor im Amt Märkische Schweiz, Marcel Kerlikofsky, berichtet für die Touristinformation über die Auswirkungen der fehlenden stabilen Anbindung.
Dramatisch hat sich die Situation für Beschäftigte des Leibniz-Zentrums für Agrarlandforschung (ZALF) in Müncheberg entwickelt. »Störanfälligkeit und Unpünktlichkeit« seien ursächlich dafür, dass Pendler*innen wieder auf das Auto umsteigen oder sich sogar gegen eine Weiterbeschäftigung am ZALF entscheiden. Die Standortanbindung werde zunehmend als Nachteil gesehen, erklärt die wissenschaftliche Direktion in einem Schreiben an die NEB, das »nd« vorliegt.
Das Caritas-Beratungszentrum Strausberg weist auf eine besonders betroffene Gruppe hin: »Viele Menschen, die in die Beratung des Jugendmigrationsdienstes kommen, berichten von Schwierigkeiten mit Vorgesetzten bei Arbeit und Ausbildung aufgrund der Verspätungen.« Ein weiteres Problem stellten Rückwege von der Arbeit, Ausbildung, Schule dar. Manche Jugendliche müssten derzeit Fußwege von über einer Stunde absolvieren, wenn sie abends die Busse verpassen, schreibt der Sozialarbeiter Erik Goldschmidt.
Das Problem, erklärt Friederike Fuchs, hat bei alldem nicht erst in diesem Jahr begonnen. Seit sechs Jahren setze die NEB auf der Strecke mit dem Triebwagentyp Pesa Link hoch anfällige Züge ein. Die Fahrzeugleittechnik funktioniere nicht. »Türen öffnen nicht, Toiletten funktionieren nicht, und weil das Koppeln häufig nicht klappt, fährt auf der Strecke statt der benötigten drei Wagen nur ein Triebfahrzeug.« Das alles ist der NEB bekannt – blieb aber bislang ohne Konsequenzen. Jetzt reicht es den Menschen in der Region endgültig. Zahlreiche Verbesserungsvorschläge der nun ins Leben gerufenen Initiative für einen zuverlässigen Nahverkehr liegen auf dem Tisch. Warum die NEB nicht zugreift? »Es fühlt sich an, als hätten sie aufgegeben«, sagt Fuchs zur Weigerung der NEB, sich aktuell zur Lage zu äußern. Umso mehr Unruhe dürfte es dann am Montagabend beim Runden Tisch geben.
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