- Berlin
- Gesundheit
Alkoholismus: Die stille Epidemie
76 000 Berliner wegen Alkoholsucht in Behandlung
Das Bier nach Feierabend, das Glas Wein vor dem Fernseher – vielen gilt das als unbedenklicher Genuss. Alkohol ist in Deutschland leicht zugänglich und der Konsum auch in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert. Gerade deswegen fällt es oft nicht auf, wenn jemand in die Sucht abgleitet. Nach und nach schiebt sich der Alkohol bei den Betroffenen immer mehr in den Vordergrund, das soziale Umfeld und Verpflichtungen werden vernachlässigt. Suchen sich die Betroffenen keine Hilfe, können die Folgen dramatisch sein: Der Konsum bestimmt das Leben, Entzugssymptome werden unerträglich, Hirn, Leber und andere Organe nehmen irreparabel Schaden, was nicht selten zum Tod führt.
76 000 Menschen sind berlinweit wegen Alkoholsucht in medizinischer Behandlung. Das geht aus einer Erhebung des Instituts für Gesundheitssystemforschung hervor, das von der Krankenkasse Barmer getragen wird. Betroffen sind demnach 53 000 Männer und 23 000 Frauen. »Die tatsächliche Zahl der Betroffenen dürfte wesentlich höher liegen«, wird Gabriela Leyh, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Berlin und Brandenburg, in einer Presseaussendung zitiert. Denn erfasst hat die Barmer ausschließlich Alkoholkranke, die sich in ärztlicher Behandlung befinden. Alkoholiker, die in psychosozialen Einrichtungen oder in Selbsthilfegruppen betreut werden, tauchen in der Erhebung nicht auf. Für die Studie hat die Barmer eigene Patientendaten ausgewertet und diese auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet.
Betroffen sind laut der Erhebung vor allem ältere Menschen. Bei 20 500 Personen im Alter von 55 bis 64 Jahren wurde im Jahr 2023 Alkoholismus diagnostiziert. Auch hier zeigen die Zahlen aber nicht die ganze Wahrheit: »Wahrscheinlich sind viele von ihnen schon seit Jahrzehnten alkoholkrank«, sagt Markus Heckman, Pressesprecher der Barmer, gegenüber »nd«. Diagnostiziert werde die Suchterkrankung aber erst, wenn sich die Betroffenen wegen körperlicher oder psychischer Folgen ihrer Abhängigkeit beim Arzt melden oder wenn erschöpfte Angehörige sie zu einer Therapie drängen.
In Berlin sind überdurchschnittlich viele Menschen wegen Alkoholsucht in Behandlung. Mit einem Anteil von 2 Prozent der Bevölkerung liegt die Hauptstadt über dem Bundesschnitt von 1,7 Prozent. Noch höher liegen die Werte in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Dort werden 2,6 und 2,3 Prozent der Bevölkerung wegen Alkoholismus behandelt.
»Noch immer wird Alkoholsucht verharmlost«, warnt Barmer-Landesgeschäftsführerin Gabriela Leyh. Menschen, die regelmäßig Alkohol konsumieren, sollten sich fragen, ob sie ein großes Verlangen nach Alkohol verspüren, sie immer größere Mengen zu sich nehmen, um die gleiche Wirkung zu erzielen, oder ob ihr Konsum zu Konflikten im privaten und beruflichen Umfeld führt. In diesem Fall sollte ein Hausarzt oder eine Suchtberatungsstelle aufgesucht werden. Auch Angehörige könnten sich bei Beratungsstellen melden, empfiehlt Barmer-Pressesprecher Markus Heckmann.
»Alkohol sollte nicht illegalisiert werden, aber es braucht ein Bewusstsein für die Folgen«, sagt Carsten Schatz, gesundheitspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, zu »nd«. Bisher herrsche noch eine »Doppelmoral«: Während andere Drogen verboten seien, löse Alkohol nur Schulterzucken aus. Ein Schritt könne es sein, ein Werbe- und Sponsoringverbot für Hersteller alkoholischer Getränke zu erlassen. »Dafür muss sich der Senat auf Bundesebene einsetzen«, fordert Schatz.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.