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  • "Einer flog übers Kuckucksnest"

Aufstand der Außenseiter

Leander Haußmann inszeniert »Einer flog übers Kuckucksnest« am Berliner Theater RambaZamba

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Hier sind alle unfrei, die Insassen der geschlossenen Anstalt wie auch die Verantwortungsträger: "Einer flog über das Kuckucksnest" am Theater RambaZamba
Hier sind alle unfrei, die Insassen der geschlossenen Anstalt wie auch die Verantwortungsträger: "Einer flog über das Kuckucksnest" am Theater RambaZamba

Als alle Zuschauer sitzen, werden die Türen abgeschlossen. Sicherheit muss sein! Erst dann werden die Insassen hineingebracht, denn dies ist schließlich eine geschlossene psychiatrische Anstalt, einem Gefängnis nicht unähnlich. Immerhin, es gibt keinen Arbeitsdienst, darum wohl auch ist McMurphy hier, der im Gefängnis sehr absichtsvoll verhaltensauffällig wurde. Man hält ihn für einen Simulanten, der glaubt, in der Psychiatrie sei das Leben leichter als im Gefängnis. Wenn er sich da mal nicht irrt!

Leander Haußmann hat den bald 50 Jahre alten Film von Miloš Forman nach dem Roman von Ken Kesey im RambaZamba-Theater mit einem gemischten Ensemble von geistig behinderten und nicht behinderten Schauspielern auf die Bühne gebracht. Vor solchen Herausforderungen hat das Ensemble keine Angst – man spielt hier gern offen mit dem Verrückt-Klischee, so in »Pension Schöller«.

Als Regisseur ist Haußmann alles andere als ein braver Nacherzähler. Er geht immer mitten hinein, forciert das Spektakel, dabei Machtmechanismen mit anarchistischer Verve von innen aufsprengend. Zuerst tritt jemand in einem weißen Kittel vor und sagt, er sei hier der Doktor. Norbert Stöß zeigt ihn auf der Grenze zwischen saturiertem Repräsentanten und Nervenzusammenbruch. »Wir sind eine moderne Station, bei uns geht es heiter zu«, sagt er, bittet um Ruhe für die gleich beginnende Therapiesitzung.

Heiterkeit ist erst einmal nicht zu bemerken, eher die latente Angst vor Schwester Ratched, die hier das Sagen hat. Der Doktor reicht ein Einhorn-Plüschtier herum, wer dieses in Händen hält, muss von seinen Problemen sprechen. So die Therapiemethode. Das aber will niemand, und so wird das Plüschtier zur heißen Kartoffel.

Haußmann setzt auf Tempo und Aktion. Das ist bei einem in die Jahre gekommenen Psychiatrie-Problemstück auch gut so und von dem ebenfalls in die Jahre gekommenen Haußmann wohl auch ein Stück Vitalitätsbeschwörung. Da gilt es mit Unvorhersehbarem zu punkten, und wenn Haußmann etwas kann, dann sind es überfallartige Szenenwechsel. Der Doktor, sagen die anderen ihm im Fortgang der eskalierenden Therapie ins Gesicht, sei gar kein Doktor. Natürlich sei er das; er holt den Roman von Ken Kesey aus der Tasche und beginnt vorzulesen. Sein weißer Arztkittel öffnet sich, darunter wird Anstaltskleidung sichtbar und das Namensschild »Norbert«. So fließend sind hier die Identitäten.

Für Haußmann ist wichtig, dass hier alle – egal, in welcher Funktion – zur Anstalt gehören. Darum ist hier niemand frei, im Gegenteil: Jene, die vorgeben, das Sagen zu haben, sind die Unfreiesten. Das ist wie in einer Diktatur, in der die Diktatoren selbstverständlich unfreier sind als jene, die sie zu beherrschen vorgeben. Denn die Beherrschten haben zumindest die Freiheit, sich zu verweigern oder gar zu revoltieren. Dem Diktator aber ist jede Distanz zur eigenen Rolle verboten, um den Preis seines Sturzes.

Die Unfreieste der Unfreien ist hier die tyrannische Schwester Ratched (fulminanter Kasernenhofton von Franziska Kleinert), die aus willkürlichen Verboten ihre Macht bezieht, wohl wissend, dass diese auch nur eine Form der Ohnmacht sind, wie sie hinter den geschlossenen Anstaltstüren herrscht. In McMurphy, dem Neuen, findet sie ihren Widerpart. Denn er ist anders, da helfen auch die starken Beruhigungsmittel nicht, die man hier allen verabreicht. Beim Stichwort »Tablettenausgabe« trotten sie alle wie fremdgesteuerte Zombies umher. Der grandiose Jonas Sippel spielt McMurphy, diesen Rebellen vom Naturell, mit dem Furor eines Antipoden jeder Machtanmaßung. Gibt es Baseball im Fernsehen, schaltet Schwester Ratched mithilfe der eingeschüchterten Insassen-Mehrheit um – er hat hier gar nichts zu sagen, so die Botschaft.

Haußmann hat einen starken szenischen Sinn, wenn es um latente Gruppendynamiken geht, die er bis zu exzessiven Entladungen treibt, meist unter Einsatz von dröhnender Live-Musik (hier vom starken Duo Gespenster, bestehend aus Amon Wendel und Phil Haußmann). 1995 wurde der Regie-Jungstar aus dem Osten in Bochum Intendant. Das war schon unerhört, wie er dort den eingefahrenen Laden auf den Kopf stellte. 2000 war Schluss mit der Ost-Anarchie im Westen, seitdem vagabundiert Haußmann über die Bühnen – und dreht vor allem Filme. Auch diese, von »Sonnenallee« über »NVA« bis jüngst zur »Stasikomödie«, handeln sämtlich vom wachsenden inneren Druck in geschlossenen Gesellschaften, die Anstalten nicht unähnlich sind. Ein Panoptikum deformierter Figuren, in denen jedoch, tief verborgen, immer ein Freiheitsfunke wohnt, der plötzlich zur Explosion gelangen kann – so wie der anfangs zögerliche Marsch am Schluss von »Sonnenallee« sich in einen wilden Befreiungstanz verwandelt. So leben Haußmanns Inszenierungen – auf dem Theater wie im Film – alle von einem orgiastischen Element!

Schließlich der Ausbruch der Insassen unter Führung von McMurphy, von Haußmann mit einem etwas ausufernden, aber virtuosen Video in Szene gesetzt. Darin Detlev Buck als obligatorischer Polizist, der zu allem zu dumm scheint, außer nach dem Ausweis zu fragen, der grauhaarig gewordene Haußmann selbst und jene Meute von bis eben Weggesperrten, die im Mini-Roadmovie durch Berlins Straßen rasen. Eine verschworene Bande, scheinbar von nichts mehr aufzuhalten.

Aber Schwester Ratched weiß, wie man jedem Einzelnen hier (außer McMurphy) das eben erst erlangte Selbstbewusstsein wieder raubt. Und so bricht das Tribunal über die fröhliche Heimkehrerrunde herein: Billy, der von seinem Mutterkomplex eben noch durch käuflichen Sex geheilt schien, wird als Erster von der Schuld-Keule, die Schwester Ratched schwingt, niedergestreckt; er verlässt die Bühne, um sich zu töten. McMurphy greift nun seine Widersacherin direkt an – und liefert damit den Vorwand für eine Lobotomie (einen Eingriff im Gehirn), der McMurphys sperrige Persönlichkeit für immer zerstört. Das aber ist die Stunde des »Häuptlings« Chief Bromden, der sich bislang taubstumm stellte – nun übernimmt er die Führung bei der anstehenden Revolution in der Anstalt.

Bei Ken Kesey und Forman war »Einer flog übers Kuckucksnest« ebenso Komödie wie Tragödie. Denn Billy ist tot und McMurphys Persönlichkeit für immer zerstört. Aber der Aufstand ist nicht aufzuhalten, die alte Macht hat sich endgültig kompromittiert. Haußmann jedoch setzt – wie immer – ganz auf die erhellende Kraft der Komödie; das funktioniert als Theaterabend auch hervorragend. Die knapp zwei Stunden funkeln von Pointen und Slapstick nur so, vorangetrieben von einem Ensemble in Hochform. Ein einziges Feuerwerk zur Freude des Publikums.

Und doch vermisst man den ernsten Unterton, den Moment, da die fröhliche Party Pause macht. Hat Psychiatrie als Machtmittel, hartnäckige Kritiker stumm zu machen, heute ausgedient? Man denke an Gustl Mollath, der Geldwäsche von Schwarzgeld in der Schweiz angezeigt hatte und daraufhin als notorischer Querulant (ohne Entlassungsmöglichkeit) in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde. Dort säße er immer noch, wenn Journalisten den Skandal nicht aufgedeckt hätten.

Was macht die geschlossene Anstalt mit Menschen? Sie raubt ihnen den Glauben an ihre Eigenständigkeit, »beheimatet« sie auf fatale Weise. So wie den großen Schweizer Autor Robert Walser, der erst eingewiesen worden war und sich viele Jahre später (als sich die Krankheitsdiagnose als falsch erwiesen hatte) weigerte, die Anstalt wieder zu verlassen, und dort starb. Keine Komödie, eine bitterernste Tragödie im gesellschaftlichen Umgang mit Außenseitern und Exzentrikern, bis heute.

Nächste Vorstellungen: 22., 29. und 30.10.
www.rambazamba-theater.de

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