Anders sehen

Die 65. Ausgabe von DOK Leipzig überzeugte durch ein avanciertes Programm

Szene aus »A Life Like Any Other«
Szene aus »A Life Like Any Other«

Alte Filmaufnahmen aus den 1980er und 90er Jahren: Sie zeigen ein junges französisches Paar, bald eine junge vierköpfige Familie in ihrem Alltag. Er ist Filmemacher, sie war als Maskenbildnerin erfolgreich, bis die Kinder kamen. Die Kamera gleicht einem Körperteil des Vaters – er filmt nicht nur professionell, sondern hält auch das Familienleben unentwegt fest. Dieses scheint zwar auf den ersten Blick nicht immer konfliktfrei zu sein, doch grundsätzlich zufrieden dahinzuplätschern.

Etwa zweieinhalb Dekaden später beschäftigt sich Faustine Cros, die Tochter, mit dem Material, das sie selbst als kleines Kind zeigt. Mittlerweile liegt ein Suizidversuch hinter ihrer Mutter, sie ist depressiv. Cros schaut genau hin: Sie will wissen, ob es schon damals Anzeichen für die Krankheit ihrer Mutter gab. Und sie findet in den alten Aufnahmen eine schmerzhafte Antwort: Worte, Bewegungen und Blicke deuten darauf hin, dass es die Struktur der Familie sowie ihre neue Rolle als Hausfrau und Mutter waren, die ihre Mutter gebrochen haben. Und dass diese sich der gesellschaftlichen Formationen, die ihr Unglück herbeiführten, durchaus bewusst war, auch wenn sie es nicht explizit formuliert haben mag.

Cros’ Verdienst ist es, dass sie diese Erkenntnis durch ihren Film »A Life Like Any Other« auch uns vermitteln kann. Wir sehen – plötzlich? – inmitten der heilen Familienwelt eine Frau, die sich wegsehnt, die gelangweilt und frustriert ist. Wir sehen aber auch Cros’ Mutter in der Gegenwart, wie sie, von ihrer Tochter ermutigt, etwas anderes von sich preisgibt als in den Aufnahmen des Vaters. Es ist ein intimes Porträt, das jedoch – dem Titel gemäß – in seiner Spezifik auch auf das Allgemeine verweist, für viele andere Frauen aus der westeuropäischen Mittelschicht des ausgehenden letzten Jahrhunderts steht. Cros gewann am Samstag mit ihrem Film auf dem Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig) einen der Hauptpreise, die mit 6000 Euro dotierte Silberne Taube im Internationalen Wettbewerb.

Anderer Kinosaal, andere Uhrzeit: Es läuft die Kurzfilmrolle »Deutscher Wettbewerb 2: Animationsfilme«. Wir sehen im Kurzfilm »Intro« zunächst eine Straßenszene, mit schwarzen Strichen auf beigefarbenem Grund gezeichnet. Eine Kreuzung, auf der Autos, Radfahrer und Fußgänger zu sehen sind. Einige Teile dieses Bildes sind mit Farben ausgefüllt, einige sind animiert. Autos passieren, beinahe ereignet sich ein Unfall – all das wird auch von einer weiblichen Stimme beschrieben.

Doch die Person, der diese Stimme gehört, ist nicht gerade das, was man in der Literaturwissenschaft unter einer »souveränen Erzählerin« versteht: Sie weiß nicht genau, wie sie das Bild angemessen beschreiben soll, verspricht sich, bewertet das Geschehen aus eigener Perspektive. Schließlich, als die Szene einer schwarzen Leinwand weicht, geht sie dazu über, von sich selbst zu erzählen: Wir erfahren, dass sie Simone heißt, 37 Jahre alt ist und Single. Und dass die dunklen Schatten und Konturen, die nun auf der Leinwand zu sehen sind, sie an ihr eigenes Leben erinnern – etwa an einen Vogel, den sie als Kind besessen hat und von dem sie noch heute manchmal träumt.

Die Rolle der nüchtern Beschreibenden wird unerwartet gebrochen, die Erzählerin als Person tritt in den Vordergrund. Ihre charmant vorgetragene Begründung: »Wann hört jemand einmal schon so gut zu?« Die Straßenszene ist verschwunden, sie diente lediglich als Anlass für die nun berichteten persönlichen Erlebnisse und Gefühle, von denen die Zuschauer keine Bilder sehen, sie vielmehr selbst in ihren Köpfen illustrieren müssen. Ist das noch Kino? Es ist auf jeden Fall ein kluger und kurzweiliger Kommentar der Animationsfilmerin Anne Isensee zu den Schwierigkeiten der Audiodeskription, der Vermittlung von Wort und Bild. Und der Unmöglichkeit einer gänzlich objektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit – die doch immer schon vorgeformt ist von unseren persönlichen Erfahrungen, Interessen und Bewertungsschemata.

Die beschriebenen beiden Filme sind lediglich zwei Beispiele für das durch formale Wagnisse und inhaltliche Bandbreite überzeugende Programm des Festivals, das diesen Herbst in die 65. Runde ging. Symbol der Veranstaltung war eine Friedenstaube – in Reaktion auf den andauernden Krieg in der Ukraine. Dieser schlug sich auch in der Filmauswahl nieder: Weil das Kiewer Menschenrechtsfilmfestival Docudays UA wegen des russischen Angriffs nicht wie geplant im März stattfinden konnte, bot Leipzig den Filmen, die dort gezeigt werden sollten, eine Bühne.

Bewegend etwa war in diesem Rahmen der schon auf der diesjährigen Berlinale gezeigte Film »Boney Piles«, für den der ukrainische Regisseur Taras Tamenko Kinder in der vom Niedergang der Kohleindustrie und von den bewaffneten Separatistenkämpfen gezeichneten Ostukraine begleitet hat. Auch mit der Reihe »Zeit zu handeln! Our House is On Fire« zeigte sich DOK Leipzig dezidiert politisch: Mit der Auswahl der Filme sollte es darum gehen, Handlungsmöglichkeiten in der Klimakrise aufzuzeigen.

Nicht zuletzt ist das Leipziger Festival wohl international die wichtigste Anlaufstelle in Bezug auf filmische Dokumentationen aus der und über die DDR. In diesem Jahr gab es mit der sich über mehrere Abende erstreckenden Retrospektive »Die Dokumentaristinnen der DDR« und weiteren Veranstaltungen die Möglichkeit, das Werk von Filmemacherinnen wie Christiane Hein oder Angelika Andrees kennenzulernen – großartige Dokumentaristinnen, die jedoch vor allem dem jungen internationalen (Branchen-)Publikum, das sich zunehmend in Leipzig einfindet, bis dato weitgehend unbekannt gewesen sein dürften. Mit kurzen Filmen, die dem Sächsischen Staatsarchiv entstammen, wurde der Behandlung der »Frauenfrage« in der DDR nachgegangen – offiziell mit der Überwindung der Klassengesellschaft gelöst, realiter auch in sozialistischen Zeiten noch drängend. Ein »Schwerpunkt Ost« war durch die neue Reihe »Panorama«, in der Filme aus Mittel- und Osteuropa gezeigt wurden, sowie einem Fokus auf slowenische Animationsfilme und einer Hommage an die serbische Filmemacherin Mila Turajlić auch in anderen Festivalsektionen erkennbar.

Die Festivalpreise für Langfilme gingen neben Justin Cros an den kolumbianischen Filmemacher Theo Montoya, der mit »Anhell 69« eine täglich von Repressionen bedrohte neue queere Generation in seinem Heimatland porträtierte (Goldene Taube Internationaler Wettbewerb, 10 000 Euro), an Sönje Storm für ihren Film »Die Toten sind ganz oben«, in dem sie sich dem Nachlass ihres Urgoßvaters widmet, der als akribischer Sammler die (mittlerweile in vielen Fällen ausgestorbene) Flora und Fauna des beginnenden 20. Jahrhunderts erkundete (Goldene Taube Deutscher Wettbewerb, 3000 Euro), sowie an den ukrainischen Regisseur Maksym Melnyk für seinen Film »Drei Frauen«, der das Landleben dreier Protagonistinnen im Dorf Stuschyzja nahe der EU-Grenze zeigt (Goldene Taube Publikumspreis, 3000 Euro). Weitere vergebene Preise können auf der Website des Festivals eingesehen werden.

www.dok-leipzig.de

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