In schlechter Verfassung

Die US-Demokraten empfehlen sich als Bollwerk gegen die autoritäre Rechte – mit mäßigem Erfolg

  • Julian Hitschler
  • Lesedauer: 6 Min.

Joe Biden nahm kein Blatt vor den Mund: Am 1. September hielt der US-Präsident in Philadelphia in der historischen Independence Hall eine »Rede über den anhaltenden Kampf um die Seele der Nation« – und schlug neue Töne an. Unerwartet hart ging Biden Teile der Opposition an, nachdem er monatelang betont zurückhaltend aufgetreten war. »Donald Trump und seine republikanischen Anhänger stehen für einen Extremismus, der die Grundfesten unserer Demokratie bedroht«, warnte Biden. Gleichzeitig stellte er klar: »Nicht alle Republikaner, noch nicht einmal die Mehrheit von ihnen […] teilen diese extreme Ideologie.«

Die warnenden Worte des Präsidenten zielten natürlich in erster Linie darauf ab, im Wahlkampf für Aufmerksamkeit zu sorgen, doch die Bedrohung ist real. Die Radikalisierung des rechten Flügels der Republikaner ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass die Frage im Raum steht, ob ihr Demokratieverständnis noch Platz für einen ideologischen Gegner lässt. Kurzzeitig verbesserten sich im Nachgang zu Bidens Rede die Aussichten der Demokraten für die Zwischenwahlen zum Senat und Repräsentantenhaus am 8. November – wobei man die gesunkenen Benzinpreise und Fehler der Opposition ebenso als Gründe anführen könnte.

Doch die Umfragewerte haben sich für die US-Demokraten in den letzten Wochen wieder merklich verschlechtert. Laut Wahlprognosen der Webseite FiveThirtyEight haben die Demokraten zwar leicht bessere Chancen als die Republikaner auf eine Mehrheit im Senat, in den jeder Bundesstaat zwei Vertreter*innen entsendet und wo ein Drittel der Mandate neu gewählt wird. Eine Mehrheit im Repräsentantenhaus, das in Wahlkreisen nach Mehrheitswahlprinzip vollständig neu besetzt wird, gerät für sie aber zunehmend außer Reichweite. Das liegt hauptsächlich daran, dass demokratische Kandidat*innen in einigen Staaten bei den Wahlen zum Senat – darunter Arizona, Pennsylvania und Georgia – mit hauchdünner Mehrheit führen. Sollte sich die politische Stimmung zu ihren Ungunsten verschieben, ist es gut möglich, dass auch der Senat im November an die Republikaner fällt.

Auch die historische Erfahrung legt nahe, dass die Aussichten für die Demokraten bei dieser Wahl eher schlecht sind. Die Partei des amtierenden Präsidenten wird bei Zwischenwahlen in den USA üblicherweise abgestraft. Einzige Ausnahme bildete in der jüngeren Vergangenheit George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Auch deshalb ist es mehr als wahrscheinlich, dass Joe Biden ab Januar, wenn der neue Kongress seine Arbeit aufnimmt, mit den Republikanern gemeinsam wird regieren müssen. Vor allem für die Verabschiedung eines Bundeshaushalts und neuer Gesetzesvorhaben wird er auf ihre Stimmen angewiesen sein.

Die Konservativen könnten vom Präsidenten im Gegenzug schmerzhafte Kompromisse verlangen, etwa die Rücknahme von Teilen des erst im August verabschiedeten Infrastruktur- und Klimaschutzpakets. Obwohl es sowohl hinter dem von linken Demokraten 2019 eingebrachten Plan eines Green New Deal als auch hinter Bidens ursprünglichen Ambitionen deutlich zurückbleibt, wird dem Maßnahmenbündel eine entscheidende Bedeutung für die beschleunigte Reduktion der Klimaemissionen der USA und damit für den globalen Klimaschutz zugesprochen. Zwar sinken die US-Emissionen seit Mitte der 2000er Jahre fast kontinuierlich, allerdings nicht annähernd schnell genug, um die Erderwärmung gemäß dem Vertrag von Paris auf 1,5 Grad zu begrenzen.

Die Zusammenarbeit mit dem rechten Flügel der Republikaner dürfte nahezu unmöglich sein. Teile der Basis, aber auch des politischen Personals der beiden großen Parteien in den USA stehen sich inzwischen absolut unversöhnlich gegenüber und betrachten die jeweils andere Seite als existenzielle Bedrohung sowohl der verfassungsmäßigen Ordnung als auch ihres Wertekanons und ihrer Lebensweise. Der Unterschied besteht darin, dass die Sorgen der Demokraten durchaus berechtigt sind. Verschwörungserzählungen darüber, die Präsidentschaftswahlen von 2020 seien gestohlen worden, gehören inzwischen zum Grundkonsens der rechten Republikaner.

Diese Rhetorik bietet eine hervorragende Grundlage dafür, selbst zu antidemokratischen Maßnahmen zu greifen, da man sich im Recht fühlt und der Gegenseite alles zutraut. Doch das opportunistische Demokratieverständnis der US-Konservativen ist kein wirklich neues Phänomen. Bereits George W. Bush verhinderte durch eine geschickte Medienkampagne und mithilfe einer konservativen Mehrheit am Obersten Gericht die Neuauszählung der Stimmen in Florida bei der Wahl von 2000 – sehr wahrscheinlich der einzige Grund, warum er überhaupt ins Weiße Haus einzog.

Insofern stellt die Entwicklung der Republikaner unter Trump zwar eine Radikalisierung, aber keine fundamentale Neuorientierung dar. In ihrem Weltbild hat der Erhalt einer rein kapitalistischen Wirtschaftsordnung und angestammter gesellschaftlicher Hierarchien Vorrang vor dem demokratischen Mehrheitswillen. US-Konservative bemühen in diesem Zusammenhang gerne das Mantra, das Land sei »eine Republik, keine Demokratie« – die Verfassung schütze die gesellschaftliche Ordnung auch vor der Kurzsichtigkeit der Wähler*innen.

Ähnlich äußerte sich zuletzt auch der konservative Senator Mike Lee aus Utah. Der rechte TV-Moderator Tucker Carlson macht seit einiger Zeit aus seiner Begeisterung für Viktor Orbáns Ungarn keinen Hehl: Dessen Modell eines Autoritarismus bei gleichzeitigem Fortbestehen einer formalen Demokratie gilt vielen konservativen Hardlinern inzwischen auch als Vorbild für die USA.

Bidens Warnungen vor einem weiteren Verfall der US-Demokratie sind also nicht unberechtigt, ebenso wie die Verweise auf die Bedrohung reproduktiver Rechte, nachdem das konservativ dominierte Oberste Gericht im Juni das landesweite Recht auf Abtreibung einkassierte. Doch die Demokraten müssen sich fragen lassen, warum sich nach fast zwei Jahren Regierungszeit für ihre Wähler*innenschaft so wenig verbessert hat. Corona-Schecks gab es bereits unter Trump, unter Biden liefen viele zeitlich begrenzte Hilfen aus und auch schon unter seinem Amtsvorgänger war die Arbeitslosigkeit niedrig – ohne dass spürbare Inflation herrschte. Klima- und Infrastrukturprogramme werden erst in Jahren Früchte tragen.

Die meisten Wähler*innen sind für die Themen der Demokraten durchaus aufgeschlossen: Laut einer Umfrage des Radiosenders NPR lehnen 64 Prozent der Amerikaner*innen die Entscheidung des Obersten Gerichts zur Rücknahme des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch ab; das Meinungsforschungsinstitut Morning Consult veröffentlichte im Juli eine Befragung, derzufolge sich 73 Prozent Sorgen über den Klimawandel machen. Doch das Leben ist unter Biden nicht einfacher geworden, steigende Kriminalitätsraten und Preise treiben viele um. Die jüngsten Erlasse des Präsidenten, etwa zu einem Schuldenschnitt für Studienkredite, hätten sofort nach dessen Amtsantritt erfolgen können. Stattdessen taktierte Biden fast zwei Jahre lang. Aber nur mit idealistischen Appellen an die staatsbürgerliche Verantwortung werden die Demokraten diese Wahlen nicht gewinnen.

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