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Ein kleines Brasília an der Spree
Senatsbaudirektorin enttäuscht Altstadtfans beim Areal um den Fernsehturm
»Das Marx-Engels-Forum wird umgesetzt. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Staat eine Planungssicherheit schuldet, dass nicht alle vier, fünf Jahre wieder alles aufgedröselt wird«, sagte Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt (parteilos, für SPD) zum Abschluss des Mitte-Festivals, bei dem die neu gegründete Stiftung Mitte Berlin vor allem für Rekonstruktion einer Berliner Altstadt wie vor 100 Jahren warb. Damit positionierte sich die vor allem wegen ihres Agierens im Wettbewerbsverfahren zum Molkenmarkt umstrittene Senatsbaudirektorin am Sonntagabend deutlicher als noch kürzlich, als sie die Neugestaltung des Freiraums zwischen Fernsehturm und Spree nicht als ihre erste Priorität bezeichnete.
Die Stiftung Mitte Berlin wirbt nicht nur für einen architektonischen Rollback am Molkenmarkt, auch die Freifläche am Fernsehturm ist ihr ein Dorn im Auge, der schnellstmöglich mit der Imitation historischer Bebauung »geheilt« werden solle, wie es bei Rekonstruktionsfans gerne heißt.
Ein beliebtes Argument in der Debatte ist, dass die Wunden der realsozialistischen Diktatur im Zentrum der Hauptstadt getilgt werden müssten, damit die Bürgerinnen und Bürger der Stadt sich wieder damit identifizieren könnten. Dass der Fernsehturm ein Akzeptanzproblem in Berlin hätte, lässt sich allerdings nicht behaupten. Und schließlich hat das Abgeordnetenhaus 2016 nach jahrelanger Debatte um die Zukunft des Areals die Bürger-Leitlinien beschlossen, die auf Basis des umfangreichen Beteiligungsverfahrens »Alte Mitte – neue Liebe?« entstanden sind. Und die sind klar: Die Fläche soll nicht bebaut, sondern grüner und verkehrsberuhigt werden sowie ein Ort für alle ohne Konsumzwang bleiben.
»Was wir hier erleben, ist sehr typisch für historische Zentren von großen oder kleinen Städten. Ob sie nun in der Welterbestadt Regensburg sind oder in Berlin, gibt es immer die große Inbesitznahme durch den Tourismus, woran die Stadtgesellschaft sich auch reibt«, konstatiert Landeskonservator Christoph Rauhut. Man könne das Areal durchaus vergleichen mit einem historischen Denkmalensemble, so der Chef des Landesdenkmalamtes. Es steht schließlich auch unter Denkmalschutz. »Man sieht dem Raum an, dass er aus einem Guss gemacht worden ist«, lobt Theresa Keilhacker, die Präsidentin der Berliner Architektenkammer die gestalterische Qualität des Areals zwischen Fernsehturm und Spree inklusive der Randbebauung an Rathaus- und Karl-Liebknecht-Straße.
Beide sprechen am Montagabend bei der Vorstellung des neuen Buchs des Architekturjournalisten Matthias Grünzig in den Räumen der Stadtwerkstatt zu Füßen des Turms. »Der Fernsehturm und sein Freiraum«, so der Titel des ohne Anhang knapp 220 Seiten starken Werks, zeichnet akribisch die Entstehungsgeschichte des 1969 von der DDR fertiggestellten Renommierprojekts.
Für Grünzig ist das Ensemble ein Werk der radikalen Moderne, bei dem sich die beteiligten Architekten nach seinen Recherchen vor allem an westlichen Vorbildern orientiert hatten. Darunter die Wiederaufbauprojekte von Le Havre in Frankreich und Rotterdam in den Niederlanden. Beide Städte sind im Zweiten Weltkrieg großflächig zerstört worden. Nicht zuletzt sei West-Berlin mit dem Hansaviertel und vielen weiteren Siedlungen und Einzelbauten ein »Eldorado der Nachkriegsmoderne« gewesen, unterstreicht der Autor.
»Die Idee, man könne am Ufer der Spree ein neues Brasília bauen, das hat Henselmann umgetrieben«, sagt Matthias Grünzig. Nicht nur für den DDR-Architekturstar Hermann Henselmann war die 1960 mitten im Nichts fertiggestellte Planhauptstadt Brasiliens ein leuchtendes Beispiel von Architektur und Städtebau. Fortschrittseuphorie war der Zeitgeist. Der erste Entwurf für einen Fernsehturm, der stark an die heutige Gestalt erinnert, stammte aus der Feder Henselmanns.
Natürlich war die repräsentative Umgestaltung des Berliner Zentrums vor allem eine Frucht des Ost-West-Gegensatzes des Kalten Kriegs. Doch nach Grünzigs Recherchen haben vor allem Architekten das Großprojekt vorangetrieben. Neben Henselmann maßgeblich Hans Schmid, der die genaue Lage des Turms bestimmte. Er sollte möglichst von vielen Stellen der Stadt, gerade auch von deren Westteil aus, zu sehen sein. Sogar das Aussehen des Ensembles vom Flugzeug aus war ein Kriterium. Man nahm auch den Konflikt mit dem Westen in Kauf, immerhin lag der 1969 fertiggestellte Fernsehturm mit seinen damals 365 Metern Höhe in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof. Mit dem Beschluss, den Turm zu bauen, sollte auch der kapitalistische Feind düpiert werden. Denn in West-Berlin scheiterten bereits über ein Jahrzehnt mit Regelmäßigkeit Pläne zur Errichtung des Fernsehturms.
Zu den Vätern des Projekts gehört auch der Architekt Gerhard Kosel, der unter anderem Staatssekretär im DDR-Bauministerium und auch Mitglied des Zentralkomitees gewesen ist. »Seine Leistung besteht vor allem darin, das Ding politisch durchgesetzt zu haben«, sagt Grünzig. Beispielsweise habe er die Kostenschätzung für Abriss und Ersatz der Bestandsbauten andernorts »auf abenteuerliche Weise geschönt«, so Grünzig. 17,6 Millionen Mark hätte das laut seiner Schätzung kosten sollen. »Realistisch waren 663 Millionen Mark«, sagt der Autor auf Basis seiner eigenen Berechnungen.
Der Krimi um den Erhalt des Areals scheint fast ausgestanden. Seit August 2021 gibt es einen Sieger im Gestaltungswettbewerb, es ist der Entwurf des Büros RMP Stephan Lenzen Landschaftsarchitekten. Mehr Grün und ein besserer Zugang zur Spree durch ein getrepptes Ufer, dazu eine Verkehrsberuhigung der das Areal kreuzenden Spandauer Straße bei Erhalt der grundsätzlichen Struktur, so der Kern des Konzepts. Die Federführung bei der Umsetzung hat die Mobilitäts- und Umweltverwaltung von Senatorin Bettina Jarasch (Grüne). Derzeit erarbeitet die landeseigene Grün Berlin GmbH die konkrete Planung, denn es gibt noch einige Knackpunkte, die gelöst werden müssen. Das berichtet Landeskonservator Christoph Rauhut am Dienstagabend. Unter anderem sein Landesdenkmalschutzamt hat noch Änderungswünsche.
Matthias Grünzig lobt auf Basis seiner Forschungen den Siegerentwurf für die Neugestaltung des Rathausforums, wie die Verwaltung die Fläche nennt. »Es wurden damit ein paar Dinge gelöst, die noch nicht gelöst waren«, sagt der Autor. »Der ganze Bereich am Spreeufer litt darunter, dass die DDR wirtschaftlich nicht mehr so potent war«, erläutert er.
Offen scheint derzeit eher zu sein, ob die bauliche Umsetzung, wie bisher angekündigt, bereits 2024 gelingen wird.
Matthias Grünzig, Der Fernsehturm und sein Freiraum, 266 Seiten, Lukas Verlag 2022, 29,80 €, ISBN: 9783867323819
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