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»Erfolgreichstes Housing-First-Projekt ever«
In Berlin bangen ehemals Obdachlose um ihre Wohnungen – diese hatten sie in einem fast leerstehenden Gebäude erfolgreich besetzt
»Hallo, wunderschön, dass ihr da seid«, begrüßt ein Mann im Treppenhaus eine Gruppe von Journalist*innen. »Ihr seid unsere ersten Gäste heute«, stellt er fest und huscht die Treppe hinauf. Der Weg führt zu einer Wohnung, deren Tür weit offen steht. »Das ist unsere Musterwohnung«, sagt er und bittet hinein. Fabi ist Mitte 30 und dürfte sich streng genommen hier nicht aufhalten. Er und einige Dutzend weitere Personen haben gerade mehrere Wohnungen in diesem Haus besetzt. Die »Musterwohnung« ist einfach renoviert, besitzt eine schlichte Einbauküche und ein paar Einrichtungsgegenstände älteren Semesters. »Und das ist einer unserer ersten Mitbewohner«, verkündet Fabi und zeigt auf einen vermummten Mann, der im Wohnzimmer auf einer Couch sitzt. »Ich bin Maik«, fängt der an sich vorzustellen, »ich lebe auf der Straße und heute ziehe ich hier ein, weil mir meine Gesundheit wichtig ist und ich noch Überlebenswillen habe.«
Es ist der 18. Dezember 2021 in Berlin. Kältebusse fahren in der Stadt umher, um von den Temperaturen um den Gefrierpunkt bedrohte Obdachlose vor dem Schlimmsten zu bewahren. In den letzten sechs Jahren sind laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes in der deutschen Hauptstadt mindestens 29 Menschen auf der Straße erfroren. Eine Gruppe von Mietaktivist*innen hat sich deshalb mit Obdachlosen zusammengetan, um sie von der Straße zu holen. Ihr Rezept ist so simpel wie kontrovers: Sie besetzen aus ihrer Sicht zweckentfremdete Wohnungen und stellen sie Obdachlosen zur Verfügung. »Die Wohnungen in der Habersaathstraße standen vorher jahrelang leer«, begründet Fabi ihr Vorgehen vor den geladenen Journalistinnen. »Deshalb sind wir heute eingezogen, um die Wohnungen wieder dem Wohnungsmarkt zuzuführen. Der Eigentümer hat andere Pläne. Der will die Häuser abreißen und das wollen wir verhindern.»
Ob das gelingt, ist knapp ein Jahr nach der zunächst erfolgreichen Besetzung offen. Noch immer steht der Abriss im Raum. Neue wie ein paar alte Bewohner*innen, die zum Zeitpunkt der Besetzung noch in dem Gebäude in der Habersaathstraße wohnten, sollen gehen, den Plänen des Vermieters Platz machen. Und die lauten offensichtlich: ordentlich Rendite machen.
Denn die Habersaathstraße befindet sich in bester Lage. Direkt gegenüber steht der Neubau des Bundesnachrichtendienstes, um die Ecke haben sich erstklassige Hotels angesiedelt, der Hauptbahnhof ist nur zehn Gehminuten entfernt. Das Haus, das von den Aktivist*innen besetzt wurde, war zu DDR-Zeiten von der Berliner Charité errichtet worden, um ihren Angestellten Wohnraum in der Nähe des Krankenhauses bereitzustellen. Bis 2006 gehörte es dem Land Berlin, das es für zwei Millionen Euro an einen privaten Eigentümer verkaufte – ein Schnäppchenpreis angesichts der Lage und Größe des Objektes.
Nach umfangreichen energetischen Sanierungen und der Installation einer Photovoltaikanlage auf dem Dach verkaufte der Eigentümer 2017 das Haus an die Immobilienfirma Arcadia Estates – dieses Mal für das ungefähr Zehnfache des ursprünglichen Kaufpreises. Die Firma stellte kurz darauf einen Antrag, das Objekt abzureißen, um das Gelände mit höherpreisigen Wohnungen neu zu bebauen. Bis heute streitet sich die Firma mit dem Bezirk Berlin-Mitte vor Gericht, ob der Abriss durchgeführt werden darf. Gleichzeitig gab es für die Bewohner*innen Mieterhöhungen und Modernisierungsankündigungen. Mehr als 80 Mietparteien zogen daraufhin aus, nur gut ein halbes Dutzend blieb.
Daniel Diekmann, Anfang 50, lebt seit 20 Jahren in dem Haus. Er ist Sprecher der Hausgemeinschaft und kümmert sich um große Angelegenheiten wie um die Verhandlungen mit dem Bezirk Mitte und dem Eigentümer über ihre Mietverträge. Aber auch um scheinbar kleine wie Müllprobleme. Dass mehr als 50 Obdachlose in die leeren Wohnungen eingezogen sind, findet er gut. »Wir haben uns als Hausgemeinschaft einstimmig dafür entschieden, die neuen Mieter*innen willkommen zu heißen, weil nur so der Leerstand beendet werden konnte. Es ist unangenehm, in einem Haus zu leben, in dem fast alle Wohnungen leerstehen«, sagt er und zündet sich eine Zigarette an.
Dass die Obdachlosen nach dem 18. Dezember bleiben konnten, stand am gleichen Tag noch fest. Der Bezirk, alte und neue Mieter*innen konnten dem Eigentümer die Zusage abringen, dass die leerstehenden Wohnungen »vorübergehend« von Obdachlosen bezogen werden dürfen. Jetzt haben mehr als 50 Personen, die vorher auf der Straße lebten, ein Dach über dem Kopf. Ein Novum in Deutschland, offensichtlich aber noch weit darüber hinaus. Diekmann meint, er bekomme aus der ganzen Welt Fragen, wie sie das geschafft hätten. Aus ganz Europa kämen Journalistinnen, um zu berichten. Letztens sogar aus den USA und Südkorea. »Wir sind das erfolgreichste Housing-First-Projekt ever«, behauptet er und lässt einen leichten Stolz erkennen.
Der Berliner Mieterverein begleitet die Leute aus der Habersaathstraße seit Jahren und berät sie in der Auseinandersetzung mit dem Eigentümer. Sebastian Bartels, stellvertretender Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, hat die Besetzung und die nachfolgenden Verhandlungen mitbekommen. »Wir haben eine Situation, die eigentlich wünschenswert ist«, meint er. »Wohnungslose Menschen bekommen sofort eine Unterkunft, also Housing First. Die Gefahr ist jetzt, dass durch eine Vereinbarung, die das Bezirksamt mit dem Eigentümer schließt, diese wohnungslosen Menschen wieder herauskatapultiert werden.«
Was Bartels meint, ist eine Vereinbarung, die eigentlich geheim bleiben sollte. Bezirk und Eigentümer hatten sie am 28. Juni dieses Jahres beschlossen, die Einzelheiten sollten der Öffentlichkeit und den Mieter*innen aber nicht transparent gemacht werden. Nur soviel: Der Eigentümer dürfe das Objekt abreißen und einen Neubau errichten. Dafür muss den alten Mieterinnen entweder eine Entschädigung ausbezahlt werden, wenn sie ausziehen, oder ihnen müssen Mietverträge in dem Neubau angeboten werden, die den bisherigen Konditionen entsprechen. Dies wäre in Kraft getreten, wenn fünf der offiziell sieben verbliebenen alten Mieter*innen dem zustimmten. Der Haken: Die ehemals obdachlosen neuen Mieterinnen werden in dieser Vereinbarung nicht erwähnt, sie hätten über erwirkte Räumungstitel ihre Wohnungen verlieren können. Und die Mieter*innen hatten nur zwei Tage Zeit, über ihre Zustimmung zu entscheiden.
Der für die Vereinbarung verantwortliche Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel war Mitte September wegen einer Affäre um eine Stellenbesetzung von der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Mitte abgewählt worden. Schriftlich hatte er zu der Vereinbarung erklärt: »Auch wenn die heute getroffene Entscheidung schmerzhaft ist, musste das Bezirksamt als Behörde in diesem Fall nicht nach dem Wünschenswerten, sondern nach dem rechtlich Zulässigen handeln.« Wäre die Vereinbarung in Kraft getreten, hätten sich auch die Gerichtsverfahren zwischen Bezirk und Immobilienfirma erledigt. Die Bewohner*innen entschieden sich allerdings dagegen, die Vereinbarung anzunehmen.
»Da wurde komplett über unsere Köpfe hinweg entschieden«, regt sich Diekmann über den Deal auf. »Das Haus ist völlig intakt und muss nicht abgerissen werden. Wir leben immer noch in einem Rechtsstaat und hier entscheidet weder das Bezirksamt noch der Eigentümer, ob abgerissen wird, sondern im Zweifel die Gerichte«. Diekmann meint, dem Vermieter gehe es nur darum, seine Rendite zu vergrößern.
Katrin Schmidberger, wohnungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, dem Berliner Landesparlament, kritisiert die getroffene Vereinbarung zwischen dem Eigentümer und ihrem Parteifreund ebenfalls, nimmt den Bezirk aber auch in Schutz. »Die Berliner Landespolitik hat da in der Vergangenheit Fehler gemacht», räumt sie ein. Gesetze in Bezug auf Abrisse von Häusern seien nicht klar genug ausformuliert, die Verfahren zur Prüfung zu langwierig und die Bezirke in der Auseinandersetzung mit abrisswilligen Vermietern alleingelassen worden. Von vorherigen Landesregierungen seien die Bezirke kaputtgespart worden, heute hätten sie nicht die Ressourcen, in einen langwierigen juristischen Streit zu gehen, wenn sie Abrisspläne ablehnten. »Ich habe den Eindruck, der Bezirk möchte das Problem mit der Habersaathstraße abwickeln, auch um die horrenden Prozesskosten zu sparen«, meint Schmidberger. Sie wünscht sich ein anderes Vorgehen, Bezirk und Senatsverwaltung sollten gemeinsam überlegen, wie sich die Situation lösen lasse.
Für Schmidberger ist klar, Abrisse von Wohnhäusern sollen verhindert werden. »Die Häuser sind oft nicht ansatzweise in so einem schlechten Zustand, wie es die Eigentümer angeben«, erklärt sie ihre Forderung. »Außerdem ist es absolut klimaschädlich, denn ein Neubau frisst immer mehr Ressourcen als eine Sanierung.«
Für Diekmann ist die Auseinandersetzung mit dem Vermieter nur ein Symptom eines grundsätzlichen Problems. »Wenn wir hier weg sind und der Neubau kommt, werden die Mieten im Kiez massiv steigen«, prognostiziert er. »Und das sehen wir ja überall: Wohnen wird zum Renditeobjekt, es wird spekuliert und wer verliert, sind die Mieter*innen.« Diekmann befürchtet, dass in den Neubau vorrangig Besserverdienende einziehen werden.
Stefanie Remlinger war noch nicht als Nachfolgerin von von Dassel gewählt, da versuchte der Vermieter bereits Fakten zu schaffen: Er versendete an die Mieter*innen sogenannte Verwertungskündigungen. Er argumentiert, es lasse sich mit der Immobilie aktuell kein Gewinn mehr erwirtschaften, deshalb müssten die Mieterinnen ausziehen und das Gebäude abgerissen und neu gebaut werden.
»Das ist ein Stück aus Absurdistan«, bewertet Diekmann die Kündigungsschreiben. Der Vermieter versuche mit allen Mitteln die Mieter*innen rauszubekommen, werde damit aber vor Gericht scheitern. Auch Sebastian Bartels vom Berliner Mieterverein bescheinigt dem Vorhaben keine großen Erfolgsaussichten. »Ich sehe nicht, dass diese Verwertungskündigungen durchsetzbar sind«, schätzt er die Situation ein. Dem Vermieter war beim Kauf der Zustand der Immobilie bereits bekannt, Gerichte würden in solchen Fällen nur selten recht geben. Diekmann und die anderen Mieterinnen setzen auf den juristischen Weg. Für sie ist klar, sie werden in der Habersaathstraße bleiben.
Sven Müller gehört zu denen, die dank des Projektes wieder ein Zuhause haben. Seit dem 30. Dezember kann er das erste Mal nach vier Jahren Wohnungslosigkeit wieder hinter sich die Tür zu seiner eigenen Wohnung schließen. »Ich habe als Lkw-Fahrer gearbeitet und nicht schlecht Geld verdient, trotzdem habe ich keine Wohnung gefunden«, erzählt er. Die Zeit in der Notunterkunft sei schlimm für ihn gewesen. Zweimal sei er mit einem Messer bedroht worden, die hygienischen Zustände seien untragbar gewesen. Von dem Plan, die Habersaathstraße zu besetzen, habe er zufällig erfahren. »Mich hat jemand angesprochen, ob ich eine Wohnung brauchen würde und dass sie etwas vorhätten. Ich war erstmal skeptisch, weil ich keinen Stress mit Bullen haben möchte. Aber er sagte, ich könne auch draußen stehen und abwarten, was drinnen passiert. Und so bin ich hier gelandet.«
Für Sven und die anderen Obdachlosen ist es die einzige Möglichkeit. »Wenn ich das hier aufgeben müsste, hätte ich ein wirkliches Problem«, sagt er. »Ich wünsche mir, dass wir das Haus behalten können und die Stadt das Gebäude zurückkauft. Es ist ein so einmaliges Projekt, das zeigt, dass wir nicht schutzlos dem Mietmarkt ausgeliefert sind – das muss erhalten bleiben.«
Bartels setzt auf ein Umdenken der neu gewählten Bezirksbürgermeisterin. »Man kann nur hoffen, dass sie den Kuschelkurs gegenüber dem Vermieter einstellt und sich auf die Seite der Mieter*innen stellt.« Um das zu erreichen, solle ein runder Tisch mit allen Beteiligten gebildet werden. Das wäre auch für Diekmann eine Möglichkeit. »Um mich herum fassen die Leute immer mehr Fuß: fangen eine Ausbildung an, machen einen Entzug und kommen wieder im Leben an. Dieses erfolgreiche Projekt dürfen wir nicht einfach so aufgeben.«
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