Der Felsen von Schabbach

Dem Filmromancier Edgar Reitz zum 90. Geburtstag

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Edgar Reitz setzte mit »Heimat« einen grandiosen Findling in die deutsche Filmlandschaft.
Edgar Reitz setzte mit »Heimat« einen grandiosen Findling in die deutsche Filmlandschaft.

Plötzlich taucht in dieser deutschen Hügelgegend Alexander von Humboldt auf. Unterwegs nach Paris. Gespielt von Werner Herzog. Wahrlich, ein Gast aus einer anderen Welt. Dem Ort Schabbach, der vor ihm liegt, nähert er sich mit Stativen zur Vermessung – nicht der Welt, sondern der besagten Region. Die aber in besonderem, störrischem Maße Welt ist: Hier lässt man die Kirche im Dorf. Und jener Alte, den Herr Humboldt – wir sind im 19. Jahrhundert – jetzt nach dem Weg fragt: Er wird gespielt vom Regisseur. Edgar Reitz.

Ein kurzer Moment aus »Die andere Heimat«. Ein vierstündiges Auswanderungsepos von 2013. Es ist gleichsam das Nach-Spiel zu einer der größten Leistungen des deutschen Films: »Heimat«, ein Zyklus von Reitz in 30 Teilen, entstanden zwischen 1982 und 2004, Gesamtlänge: über 52 Stunden. Ein Lebens-Roman, der von 1919 bis zur Jahrtausendwende die Biografie dieses fiktiven Dorfes im Hunsrück erzählt. Das Dorf und die Familie Simon. Ein Stammbaum wurzelt und zweigt, bildet Borke aus und Blatt. Die Wurzeln im Streit mit dem Himmel, in den keine Bäume wachsen – aber Träume.

Schön ist, was beweint werden kann. Deshalb beeilt sich Schönheit fortwährend darum – zu vergehen. Vergehen, das ist ein anderes Wort für: sterben. Existenz summiert sich aus unablässigen Toden. In diesem Film gipfelt das in dem Satz: »Es ist des Menschen Natur, Abschied zu nehmen, denn jeden Tag unseres Lebens werden wir nie mehr wiedersehen.«

Der Satz greift. Er ist erschreckende Wahrheit: jeder Tag ein fallendes Körnchen in jener Sanduhr, die uns die schwindende Zeit unseres Daseins anzeigt. Noch erschreckender: diese Leichtfertigkeit, mit der wir trotz dieser Wahrheit doch so manchen Tag schon frühmorgens zum Teufel jagen: So geschieht sie, die gedankenlose Beihilfe zur Selbstvernichtung!

Es ist Jakob Simon, Sohn des Schmiedes von Schabbach, der besagten Satz in sein Tagebuch schreibt. Ein Buch der Fluchtvorbereitung: Jakob wird nach Brasilien auswandern. Ein Traum, Mitte des 19. Jahrhunderts, gesetzt gegen die Fron, die Armut, die mörderische Diphterie, die politische Pression, die Langeweile im Hunsrückdorf. Jakob kennt die fremden Sprachen. Jakob lebt in Tagträumen längst schon in der Ferne. Unvergessliches Bild: Jakob liest Bücher, die ihm der Vater regelmäßig aus der Hand schlägt. Auf einem Fels im nahen Wald steht er wie ein sehnsüchtig heulender Wolf, der davon träumt, ein Ikarus zu sein.

Der Reitz-Kosmos: In Bildern, wie vom US-amerikanischen Fotomagier Anselm Adams aufgenommen, driften Wolken, gespenstern Schatten, ziehen Nebel. Wogende Felder erinnern an Nietzsche: »Auf die Schiffe, ihr Philosophen!«

Und das Licht! Es weißt die Gesichter, als sei es ein Punktscheinwerfer des Schicksals. Im Schwarz-Weiß aller Szenen leuchten immer wieder Farbpunkte auf – o berückende technische Poesie! –, da ein glühendes Hufeisen, da ein türkisfarbener Wandbestrich, da eine Kornblumenfront, da eine Deutschlandfahne, da ein Geldstück – all der mögliche Zauber der sichtbaren Welt. Ein beinahe mahnendes Glänzen der Zeichen, an denen wir gewöhnlich unser trauriges Talent erproben, das Schöne zu übersehen – weil es »nur« in alltäglichst geringer, geringgeschätzter Gestalt aufkommt. Und spuck da einer, so viel er mag: Eine Deutschlandfahne kann sehr wohl – schön sein.

»Heimat« ist ein bleibendes Werk des schwärmenden Geistes, ist poetische Wirklichkeit in realer Welt, ist detailsüchtige Realität in überhöhter Szenerie. Das Hunsrück-Platt als Verfremdungsschub. Die Geschichte taucht ins graue Karge und pfützig Elende, ist aber kein vordergründiges Sozialdrama. Kampf um Geld und Geltung. Idyll und Krieg, Dreck der Provinz, Lockruf der Ferne. Kampf kerbt die Menschen, aber entstellt sie nicht. Der Roman behauptet im harten Milieu das liebende Märchen, die romantische Saga.

Deutsche Geschichte, deutsches Schicksal, deutsches Abenteuer: Auf Hass folgt Versöhnung, auf Verletzung Verständigung; Armut und Enge drücken und lasten, härten und mürben – und doch gibt es eine Kraft des fraglosen Zusammenhalts. Der Güte schafft, aber die Traurigkeit nicht abschaffen kann. Filme also, die vom Abschied erzählen: Abschied von Sterbenden, die keine Kraft mehr haben, von Geliebten, die andere lieben, von Freiheitsrufen, die Kerker bringen.

Zum Film kam Reitz, der Sohn eines Uhrmachers und einer Modistin, geboren 1932, bereits in den frühen 50ern. Gemeinsam mit anderen Unterzeichnern plädierte er 1962 im legendären »Oberhausener Manifest« für ein rebellisches junges Kino der Ordnungskritik. Für »Deutschland im Herbst« (1978), eine Bestandsaufnahme der bundesrepublikanischen Misere nach Schleyer-Attentat und Stammheim, steuerte er – neben Kluge, Fassbinder und Schlöndorff – eine Episode bei.

Im Grunde hat Reitz den Heimatfilm revolutioniert. Hat der vermeintlichen Existenz-Enge den Bedeutungsadel zurückerstattet: Provinz nämlich ist das Fundament der Weltläufigkeit. Was wir sind, gründet sich auf Beschränktheit – und was wir im besten Sinne zu werden imstande sind, basiert hauptsächlich auf einem Selbstbewusstsein, das diese Beschränktheit nicht leugnet. Sondern sie mitnimmt, wohin wir auch fliehen. Heimat ist Halt. Aber was sie wirklich ist, weiß trotzdem niemand – so, wie niemand weiß, wo Utopia liegt.

Die Jahrhundertchronik von Schabbach legt offen, dass Kunst nicht bedeutet, deutsche Geschichte nur immer als moralischen Text zu lesen – aus dem dann schulpflichtig und lehrstofftreu zu lernen sei. Lernen wir denn wirklich? Alle Kriege wurden analysiert, alle Kämpfe seziert, alle Katastrophen kategorisiert, alle Warnungen gekeltert, alle Entwicklung geordnet; und komme keiner mit der langweiligen Formel von der Dominanz politökonomischer Verhältnisse. Vielleicht dreht sich geschichtlich so vieles im Kreis, weil die Menschheit als Ganzes nie klüger sein kann als ein einzelner Mensch. Der lernt am eigenen Leib – Menschheit aber hat keinen Leib, kein Ich, kein wirkliches Wachheitsorgan.

Ein »Wir« wird aus Schaden nie klug. Es ist stets nur der Einzelne, der zu erschüttern ist – weil er Schmerz spüren kann. Das genau war Reitz’ Ansatz: Das Leben derer vor uns wird uns in seinen Wirren, Leiden, Unbegreiflichkeiten verständlich, weil wir selber, trotz »neuer« Zeiten, doch kein bisschen anders fühlen. Und: Dies Filmwerk bleibt ein Beispiel für das Dokumentarische ganz aus dem Wesen der Kunst heraus; es ist Kunst ganz aus dem Wesen des Tatsächlichen heraus.

Dieses Tatsächliche hat nichts zu tun mit einer Geschichtsdidaktik, die auf vermeintliche übertragbare Lernzentren zielt. Dichter Heiner Müller träumte von einer »Bibliothek aller menschlichen Biografien«: die Kunst als eine Art Intensivstation des aufregend Gewöhnlichen. Schabbach: gleichsam das fiktive Parallel-Universum zu dem, was Winfried und Barbara Junge im Dokumentarfilm gelang, mit ihrer Langzeit-Chronik der »Kinder von Golzow«.

Reitz, der nun 90 wird, setzte mit »Heimat« einen grandiosen Findling in die deutsche Filmlandschaft, ein Werk der vorwiegend unverbrauchten, starken Schauspieler- und Laien-Gesichter. Erzählend: Der Mensch ist nicht einfach nur eine Tatsache, er ist ein Ereignis.

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