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Nur keine schlafenden Hunde wecken

Sandra Pingel-Schliemann und Thilo Wierzock haben zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze nichts Neues beizutragen

  • Lothar Schröter
  • Lesedauer: 5 Min.
Übung an einem Grenzabschnitt bei Mühlhausen, 1982
Übung an einem Grenzabschnitt bei Mühlhausen, 1982

Es sind eigentlich zwei Bücher in einem. Da ist einerseits ein opulenter Bildteil mit wenigen bereits in anderen Publikationen veröffentlichten wie auch bisher unveröffentlichten Fotografien von der einstigen Staatsgrenze, darunter auch »verbotene private Aufnahmen der Grenzsoldaten«, die sich von den zu anderen Zwecken gemachten unterscheiden, durch ihren ganz persönlichen Blick. In militärisch sensiblen Bereichen sind private Schnappschüsse in aller Welt verboten, das war nicht nur in der »DDR-Diktatur« so, wie die Autoren suggerieren. Die rund 190 Fotos umfassende und bis ins Jahr 2008, also lange nach der Grenzöffnung reichende Bildstrecke vermittelt dennoch einen recht authentischen Blick von einer oder gar der sensibelsten Grenze zwischen zwei hochgerüsteten Militärblöcken, dem westlichen und östlichen. Die deutsch-deutsche Grenze trennte nicht nur zwei Staaten. 

Die Zeitzeugen werden sich hier sachgerecht wiederfinden, die nachgeborene Leserschaft kann sich ausschnittweise ein Bild von den Folgen der Spaltung Deutschlands und Europas machen. Die Fotos vermitteln Einblicke und Einsichten: in die Ausbildung der Grenzsoldaten, ihren militärischen Alltag und ihre Freizeitgestaltung, in militärische Zeremonien, in die Grenzsicherungsanlagen und in das Verhältnis zur an der Grenze lebenden Bevölkerung. Die Bildunterschriften sind überwiegend sachlich und nicht ideologisierend. Sie richten sich vermutlich nach den Originalbeschriftungen der Aufnahmen. An einer Stelle hat sich jedoch ein Fehler eingeschlichen: Der Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA, Admiral Waldemar Verner, wurde mit dem Chef der Volksmarine der DDR, Admiral Wilhelm Ehm, verwechselt. 

Die Überschriften zu den einzelnen Themenbereichen verfallen dankenswerterweise ebenfalls nicht in den Mainstream-Jargon, bis auf eine Ausnahme: der sogenannte Schießbefehl, den es nicht gegeben hat – was die Verfasser dieses Buches gewiss wissen. Und dennoch wabert der vermeintliche Befehl durch die Medien, seit ARD-Korrespondent Lothar Loewe 1976 behauptete, in der DDR wisse jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl hätten, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen. Der »Schießbefehl« ist nach wie vor einer der Eckpfeiler im geschichtsideologischen Feldzug zur Delegitmierung der DDR. Dementsprechend unterstellt Peter J. Lapp in seinem Geleitwort zu dem hier vorgestellten Band den Schusswaffengebrauchsbestimmungen der Grenztruppen der NVA, die sich kaum von denen des westdeutschen Bundesgrenzschutzes unterschieden, eine »Lizenz zum Töten«.

Bei der Lektüre des »zweiten Buches« im Buch wurden die Nerven des Rezenten allerdings überstrapaziert. Es fällt schwer, Contenance zu wahren. Hier werden allerlei sattsam bekannte Klischees zur »innerdeutschen« Grenze kolportiert, die eben keine solche war, sondern eine Grenze zwischen zwei souveränen Staaten und eine Systemgrenze dazu. Das Vokabular ist das gängige: »Zwangskollektivierung«, »Diktatur«, »allgegenwärtige Überwachung«. Überraschenderweise verzichtete das Autorenduo Sandra Pingel-Schliemann und Thilo Wierzock auf das Diktum vom »Unrechtsstaat«.

Ansonsten stößt man auf eine merkwürdige Mischung aus Wahrheiten und Halbwahrheiten, Verzerrungen, Verfälschungen, Verdrehungen, apodiktischen Behauptungen und propagandistischen Losungen. Es ist das übliche Einerlei und Allerlei, damit auch der letzte Leser begreift, wie schlimm die DDR war. Um so heller erstrahlt im Vergleich der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland, trotz stetig weiter auseinanderklaffender Schere zwischen Arm und Reich, Inflation, Energiekrise, drohender Rezession, Hochrüstung, Wirtschaftskrieg nach außen, Korruption, Cum-Ex- und Wirecard-Skandal, Verflachung der Medienlandschaft, Abschottung gegen Flüchtlinge etc. Von einem durch die »Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« geförderten Werk war wahrscheinlich auch nichts anderes zu erwarten.

Wohl niemand habe den Dienst an der Grenze unbeschadet überstanden, mutmaßen die Autoren. Sie begründen dies mit fehlenden Rückzugsmöglichkeiten, einer permanenten Gefechtsbereitschaft, täglicher »Vergatterung« sowie zu wenig Schlaf und Abwechslung, lang andauernder Trennung von Familie und Freundin, »Willkür der Vorgesetzten, militärischem Drill und Drangsalierungen«. Die Politikwissenschaftlerin Pingel-Schliemann, geboren 1973, und der Hobbyhistoriker Wierzock, 1972 geboren und 1985 mit seinen Eltern aus Berlin (Ost) in den Westen übergesiedelt, kennen vermutlich den Dienst in der Bundeswehr nicht, schon gar nicht aus eigenem Erleben. Sie sind offenbar auch nicht »belastet« durch Wissen um Vorkommnisse beispielsweise an der Grenze zwischen den Westzonen und ab 1949 zwischen der Bundesrepublik und Belgien: Bis 1953 wurden dort 31 Schmuggler und zwei Zöllner getötet; Hunderte Menschen, unter ihnen Unbeteiligte, auch Frauen und Kinder, erlitten durch Schüsse teilweise schwere Verletzungen. Historische Vergleiche hinken zwar immer, aber das hält nicht ab von Vergleichen zwischen der Nazi-Diktatur und der DDR. 

Nicht hinterfragt werden historische Hintergründe. Umfänglich widmen sich die Autoren den Aussiedlungen aus den Grenzgebieten zur Bundesrepublik 1952 und 1961. Tatsächlich mussten Tausende Betroffene diese als Unrecht empfinden. Unterschlagen wird hier aber, dass die Einführung eines militärischen Grenzregimes eine Reaktion auf die Ablehnung der sogenannten Stalin-Note vom 10. März 1952 zur Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands unter der Prämisse der Neutralität durch die Westmächte und der zügig vorangetriebenen Westintegration der Bundesrepublik unter der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer war, was sich bereits im Mai 1952 in der Unterzeichnung des General- und des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) niederschlug. 

Auffallend auch: Im Quellen- und Literaturverzeichnis finden sich keine kritischen, dem Zeitgeist widersprechenden Publikationen, offenbar nach dem Motto: Nur keine schlafenden Hunde wecken!

Fazit: Die im Untertitel des Buches versprochenen und mit den privaten Fotografien von Grenzsoldaten auch tatsächlich vermittelten authentischen Innenansichten kollidieren mit der Außenansicht der Autoren. 

Sandra Pingel-Schliemann/Thilo Wierzock: Spurensicherung. Innenansichten der DDR-Grenztruppen. Edition Braus, 176 S., geb., 24,95 €.

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