Vom Rausch zum Wahn

Harald Jähner über das kurze Leben der Weimarer Republik

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 5 Min.

Aus Weimar nichts Neues? Diese Frage stellt sich bei jedem weiteren Buch über die bestens erforschte und beschriebene Zeit der ersten deutschen Republik. Die Fakten sind bekannt, deren Bewertung bleibt kontrovers, auch wenn sich die Urteile innerhalb der Historikerzunft anzunähern scheinen. Was hat da nun das neue Buch von Harald Jähner zu bieten?

Zunächst einmal seine etwas andere Neugier: »Wissen zu wollen, wie es sich anfühlte in der Weimarer Republik, heißt, sie nicht bei jeder Gelegenheit von ihrem Ende her zu interpretieren«, schreibt der Autor. Mit seinem Erfolgsbuch »Wolfszeit« hatte er über die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eine historiografische Lücke geschlossen. Funktioniert das gleiche Konzept auch bei der Darstellung einer gut erschlossenen Epoche?

Wie in der »Wolfszeit« geht Jähner auch hier »das kurze Leben zwischen den Kriegen« an. Den Kern bilden O-Töne aus privaten Aufzeichnungen, aus zeitgenössischer Presse wie Literatur. Jähner stellt sie durch seine knappe Darstellung der geschichtlichen Ereignisse in einen stimmigen Zusammenhang. Unverzichtbar zum Verständnis, »wie es sich damals anfühlte«, sind die zahlreichen zeitgenössischen Fotos, die treffend auswählt sind und die seinerzeitige beschleunigte gesellschaftliche Entwicklung bildhaft erzählen.

Das alles verflacht aber nicht in wertfreiem Historismus, sondern stellt sich Grundfragen wie die nach der Verantwortung des einzelnen Menschen für das, was kommt. »Die Entwicklung zum Nationalsozialismus war nicht zwingend. So schwach war die Weimarer Republik nicht, dass nicht auch ein anderer Ausgang denkbar gewesen wäre. Die Menschen hatten die Wahl, jeder für sich, nicht zuletzt in der Wahlkabine«, betont Jähner.

In 14 zeitlich und inhaltlich geordneten Kapiteln schreitet der Autor vom Sturz der Monarchie in Deutschland und der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 bis zur Ernennung Hitlers als Reichskanzler am 30. Januar 1933. Die kurze Zwischenkriegszeit, die mit dem Begriff »Weimar« verbunden ist, begann mit der Heimkehr der Soldaten von den Fronten in West und Ost. Die einen hatten gegen die Fortführung des Krieges gemeutert, die anderen fühlten sich »im Felde unbesiegt», von der Heimatfront aber verraten und trachteten nun nach Revanche.

Gewalt herrschte allenthalben. Nicht nur der erste Finanzminister der Weimarer Republik, Matthias Erzberger, und Außenminister Walther Rathenau wurden ermordet. Der Statistiker Emil Gumbel hat 1922 die in den ersten vier Jahren der Republik bekannt gewordenen politischen Morde errechnet. »Er kam auf 354 von Rechtsextremisten verübte Morde. Ihnen standen ganze 22 durch Linksextreme begangene gegenüber. Dennoch traf sie stets die ganze Härte der Gerichte. Linksradikale Täter wurden im Durchschnitt zu einer Haftstrafe von je fünfzehn Jahren verurteilt, die rechten kamen durchschnittlich mit je vier Monaten davon«, berichtet Jähner.

Einen beruhigenden Einfluss übte der erste Reichspräsident, der in Heidelberg geborene Friedrich Ebert (SPD) aus, den Jähner entgegen vielen Vorurteilen besonders würdigt. »Sein Aufstieg war ein modernes Märchen … Gelernter Sattelmacher, Wirt einer Bremer Kneipe und seit 1919 plötzlich Reichspräsident. Ihm zur Seite stand Louise Ebert, ehemals Arbeiterin in einer Zigarrenfabrik. … Als First Lady der Republik war die Kistenkleberin Nachfolgerin der Kaiserin Auguste Viktoria. Sie machte ihre Sache blendend. Die Empfänge im Präsidentenpalais gab sie mit so natürlicher Grazie und Liebenswürdigkeit, dass sich auch eine Freifrau von Rheinbaben entzückt zeigte«, schreibt Jähner.

Seine Aufgabe, für Mäßigung zu sorgen, habe Ebert mit »schlichter Würde und gelassener Vernunft« erfüllt, zitiert der Autor den Schriftsteller Thomas Mann. Als der dennoch gerade auch in der Arbeiterschaft (ob seiner Rolle in der Novemberrevolution) unbeliebte Ebert 1925 unerwartet starb, habe die Republik den Atem angehalten, meint Jähner. Millionen hätten in diesem Moment geahnt, was sie an ihm verloren hatten.

»Posthum besteht der Reichspräsident den Würdetest – und die Republik gleich mit«, schreibt Jähner über die Trauer- und Beisetzungsfeierlichkeiten. Im Epilog widmet er dessen Söhnen einige Zeilen: »Friedrich jun. war von 1948 bis 1967 Oberbürgermeister von Ost-Berlin, sein Bruder Karl wurde 1946 Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg und blieb es bis 1964.« 

Auf Ebert folgte im Amt der Weltkriegsgeneral Paul von Hindenburg. Er ist es, der dann den österreichischen Weltkriegsgefreiten Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennt.

Jähner durchleuchtet die 14 dramatischen, politisch schicksalhaften Jahre auch hinsichtlich kultureller und wissenschaftlich-technischer Entwicklungen, berichtet über Bauhaus und Art déco, über den zunehmenden Straßenverkehr, Schreibmaschinenstuben und den Siegeszug des Charleston. Das mit all dem verbundene neue Lebensgefühl fasst Jähner mit dem Wort »Höhenrausch« zusammen.

Die Moderne zog ein, verkörpert auch durch selbstbewusste Frauen mit Bubikopf und kurzem Rock, die 1918 das aktive wie passive Wahlrecht erhalten hatten, Berufe ergriffen, über eigenes Geld verfügten und nun auch sexuelle Teilhabe in Anspruch nahmen. Der technische »Höhenrausch« mit dem Foto eines Zeppelins über dem Berliner Funkturm eindrucksvoll in Szene gesetzt, flachte jedoch ab, je weiter man sich von Berlin oder anderen deutschen Großstädten weg und ins Land hinein begab. Mit der Weltwirtschaftskrise verflog der »Höhenrausch« für die Mehrheit der Deutschen; die Arbeit ging aus, die Stimmung sank. Alle Modernisierungsgewinne wurden von rechts kassiert. »Mehr Kiez, weniger City«, formuliert Jähner treffend. Die Propaganda der Nazis verfing bei immer mehr Menschen.

Die Parteien, die in den 14 Jahren Weimarer Republik zwölf Regierungen gebildet hatten, verloren an Stimmen und Einfluss. Und mit der Zustimmung zu Hitlers Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933 auch ihr Profil und ihre Ehre – ausgenommen die SPD, die mit Nein stimmte; die Mandate der KPD waren bereits annulliert. Ein neuer, tiefbrauner Wahn kam über die Menschen.

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen. Rowohlt, 557 S., geb., 28 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.