Jeden Tag ist Totentag

In Mexiko wird am Día de muertos auch der ermordeten Journalisten gedacht

  • Moritz Osswald, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Studentenblume Cempasúchil ziert den kleinen Platz neben dem Revolutionsdenkmal.
Die Studentenblume Cempasúchil ziert den kleinen Platz neben dem Revolutionsdenkmal.

Pamela Cerdeira tritt ans Mikrofon. Feste Stimme, kein Skript, kurzer Blick in die kleine Runde. Sie müsse gestehen, sagt die Hauptstadt-Journalistin, sie habe ein Problem mit der Parole: »Man tötet die Wahrheit nicht, indem man Journalisten tötet.« Diese Losung prangt bei jeder Demo gegen Journalist*innenmorde.

Cerdeira erinnert an den Fall eines bekannten Mediengesichts: Lourdes Maldonado. Sie wurde am 23. Januar 2022 vor der eigenen Haustür in Tijuana ermordet. Die Journalistin recherchierte zu Korruptions- und Politik-Themen – in Mexiko hängt das oft zusammen. Besonders heikel: Die Tatsache, dass Lourdes Maldonado um Hilfe bat; um Schutz, damit sie weiterhin ihren Beruf ausüben kann. »Ich habe Angst um mein Leben«, hatte sie dem Präsidenten Mexikos Andrés Manuel López Obrador ins Gesicht gesagt – bei einer Pressekonferenz im März 2019. Jetzt ist sie tot. Sie war im staatlichen Schutzprogramm, das solche Taten verhindern soll. Es versagte komplett.

Während die Mittagssonne auf den Asphalt brennt, führt Pamela Cerdeira aus: »Wenn man einen Journalisten tötet, dann tötet man ein Stückchen Wahrheit.« Die bleierne Schwere ihrer Worte hallt in den Gesichtern der Zuhörer*innen nach. Knapp 40 Menschen haben sich an diesem Montagmorgen beim Denkmal der Revolution im Zentrum von Mexiko-Stadt versammelt.

Es sind besondere Tage in Mexiko. Die ohnehin übervölkerte Hauptstadt platzt aus allen Nähten. Wer im öffentlichen Nahverkehr überhaupt noch einen Sitz- oder Stehplatz bekommt, sieht eine Art Wandermuseum: Junge Menschen steigen mit gruseliger Verkleidung in den Bus, ältere Frauen schleppen Einkäufe für den heimischen Totenaltar durch die Gegend. Die Toten kehren zu den Lebenden zurück – der Día de Muertos ist ein Fest, kein Trauerakt. Feiern, Trinken, Bauch vollschlagen: So wird die Ankunft der Verstorbenen zelebriert.

Es gibt sogar genau definierte Tage für die Rückkehr, abhängig von der Todesart: Der 28. Oktober ist für Menschen bestimmt, die bei einem Unfall oder auf sonstige tragische Weise umkamen. Am 29. Oktober kehren die Seelen der Ertrunkenen zurück. Fast eine Woche lang werden Ableben und vorübergehende Heimkehr von Familienmitgliedern und Nahestehenden gefeiert.

»Der Tag der Toten ist ein Synkretismus, geboren aus einer Mischung katholischer Traditionen und indigener Bräuche«, erklärt Mario Hurtado gegenüber »nd«. Er gehört dem NGO-Dachverband Espacio OSC an, der viele wichtige zivilgesellschaftliche Organisationen zusammenbringt. Hurtado steht neben den grell-orangenen Cempasúchil, wie die aus Mexiko stammende Studentenblume genannt wird. Sie ziert den kleinen Platz neben dem Revolutionsdenkmal. Auf dem Boden sind die Konterfeis ermordeter Journalist*innen und Aktivist*innen zu sehen. Ein junger Mann zündet Stäbchen mit Copal an, dem markant duftenden Baumharz.

In keinem Land der Welt werden mehr Medienschaffende wegen ihrer Arbeit ermordet. Mexiko ist das gefährlichste Pflaster der Erde, um kritischen Journalismus auszuüben. Verantwortlich für den Mega-Altar zum Gedenken an ermordete Berichterstatter*innen ist vor allem die feministische Nachrichtenplattform Cimac (Kommunikation und Information für Frauen). Sieben Journalistinnen, 22 Aktivistinnen, dazu 49 männliche Berichterstatter und 78 Menschenrechtsverteidiger wurden getötet – allerdings nicht etwa seit der Jahrtausendwende, sondern seit Amtsantritt (2018) des amtierenden Präsidenten Andrés Manuel López Obrador.

Der bunt geschmückte Altar soll an all die Opfer erinnern. Hoher Besuch war auch vor Ort: Gautier Mignot, EU-Botschafter in Mexiko sowie Guillermo Fernández-Maldonado, Vertreter des Büros des Hohen Kommissars der UN für Menschenrechte, ließen sich blicken. Letzterer verlas die üblichen Bekundungen und Bekräftigungen. Die Arbeit der Medienschaffenden trage zum »Aufbau und zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« bei. Diese beiden Elemente bräuchte Mexiko dringend.

Das Land steckt in einer gravierenden humanitären Krise. Rund 100 Morde täglich, über 100 000 Verschleppte und mehr als 52 000 nicht identifizierte Leichen verleihen der ausgelassenen Feierstimmung rund um den Tag der Toten einen seltsamen Beigeschmack.

Kürzlich zirkulierte ein Video in sozialen Netzwerken, aufgenommen im Bundesstaat Zacatecas. Darauf ist ein Hund zu sehen, der den abgetrennten Kopf eines Mannes spazieren trägt. Dieser hatten Kriminelle zuvor auf einen Geldautomaten montiert. Das Video stellte sich als echt heraus. Die Polizei brauchte so lange, bis sie eintraf, dass der Hund sich bediente. In einem Kommentar der Zeitung »El País« schreibt Carmen Morán Breña von einem »Symbol der absoluten Entwürdigung« und bringt die Dauerkrise der mexikanischen Republik auf den Punkt: »In Mexiko ist jeden Tag Totentag.«

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