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Einfrieren von Vernunft
Verhandeln oder Kräfte sammeln? Alles deutet auf einen langen Krieg
Zwei Tage berieten die Außenminister der G7-Staaten in Münster. Am Freitag, so rechnete die gastgebende Chefdiplomatin Annalena Baerbock auf Twitter vor, war »der 308. Tag unseres G7-Vorsitzes. Und der 254. Tag des russischen Krieges. Jeder Tag ist eine Katastrophe.« Falls sie meint, was sie schrieb, so wäre das nicht nur die Wahrheit über Putins brutalen Krieg, sondern würde auch die Politikunfähigkeit der »großen Sieben« und des Westens insgesamt treffend beschreiben. Doch: So beschränkt wie Baerbocks Formulierungskunst ist ihre Fähigkeit zur Selbstkritik. Sie behauptete in Münster tatsächlich: »Wir G7 sind … zu einem Krisenbewältigungsteam geworden.«
Was bringt sie zu dieser Ansicht? In Münster warnte man Russland wieder einmal vor dem Einsatz von atomaren, chemischen oder biologischen Waffen. Man war fast begeistert, dass auch G7-Mitglied China in dieser Frage mitzieht. Und ja, man verurteilte die jüngsten russischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine. Doch Überschriften, laut denen die G7 einmütig eine weitere uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine beschlossen, sind reines Wunschdenken.
Wie aber stoppt man das Morden im Osten Europas? Die Geschichte kennt verschiedene, sich teilweise überdeckende Muster. Da wäre zunächst der militärische Sieg einer Seite. Lässt man alle Propagandasprüche beiseite, so bleibt die Erkenntnis: Moskau kann nicht gewinnen, wenn die Ukraine weiter vom Westen massiv unterstützt wird. Seit den im Norden, Osten und Süden erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensiven sowie den kühnen Angriffen auf die Brücke von Kertsch und die Schwarzmeerflotte sollte sich diese Erkenntnis auch in Putins Umfeld festgesetzt haben. Trotz der Annexion der vier nicht einmal vollständig besetzten ukrainischen Ostgebiete, trotz der Mobilisierung hunderttausender Reservisten und trotz der durch westliche Sanktionen begründeten Neuausrichtung der Wirtschaft ist Russland als Atommacht nicht zu bezwingen.
Eine zweite aus der Geschichte bekannte Möglichkeit, Kriege zu beenden, bietet die allseitige Ermattung der Parteien. Gern verweisen Historiker auf die Situation zum Ende des Ersten Weltkrieges, als Kaiser-Deutschland militärisch keineswegs doch politisch und wirtschaftlich am Ende war. Gerade deshalb warf die Führung in Berlin alles, was sie hatte – einschließlich Giftgas – in die Waagschale. Das Beispiel mag Warnung sein, weiter trägt es nicht.
Eine dritte Variante zum Beenden eines Krieges ist eine vertragliche Lösung, die jeder Seite das aktuell Erreichbare sichert. Allerdings: Niemand besitzt auch nur eine vage Vision einer machbaren Friedenslösung. Und wie sieht es aus mit einer Idee für einen Waffenstillstand? Präsident Wladimir Putin, Außenminister Sergej Lawrow und andere Moskauer Funktionäre erwecken immer öfter den Eindruck von Verhandlungsbereitschaft. Gerade jetzt, da das Treffen der G20-Staaten in Indonesien bevorsteht, will man Kontakte suchen und Gespräche führen. Im Kleinen gibt es sie. Der Austausch von Kriegsgefangenen ist ein Hinweis darauf.
Freilich streckt man die Hand nicht in Richtung Kiew aus. Die dortige Regierung ist aus Moskauer Sicht ohnehin nur ein Marionettenensemble. Des Kremls vage Angebote richten sich an den Westen, an die Nato und vor allem die USA. Ende vergangener Woche kritisierte Russlands Botschafter in Washington, Anatoli Antonow, die erneuten Waffenlieferungen in die Ukraine und drängte die US-Regierung dazu, endlich Einfluss auf ihre ukrainischen Partner zu nehmen, damit man über einen Waffenstillstand reden könne. Realer Wunsch oder Zeitspiel?
Signale der Verhandlungsbereitschaft richten sich durchaus auch an das eigene, vom Verlauf der »Sonderoperation« entsetzte Volk. Man will Souveränität zeigen, weshalb Präsidentensprecher Dimitri Peskow jüngst längst vergessene Sicherheitsgarantien für Europa, die Moskau im vergangenen Dezember präsentierte, erneut auf den Tisch legte. Sie wären, so sagte er, eine gute Grundlage für die Rückkehr zu Gesprächen mit den USA. Wie sehr verkennt man da Realitäten und Kräfteverhältnisse! Die Vorschläge laufen auf den Rückzug der USA aus Europa und einen Rückbau der Nato hinaus. In Washington folgt man einer ganz anderen Weltsicht, betrachtet China und nicht Russland als ultimativen Gegner. Aktuell wartet man ab, wie sehr die am Dienstag stattfindenden Midterm-Wahlen das politische Gefüge in den USA und damit deren außenpolitischen Handlungsspielraum ins Rutschen bringen.
Das alles spricht – wie die dürren Ergebnisse des G7-Gipfels – nicht für einen gangbaren Weg in Richtung Vernunft. So werden weiter Waffen sprechen und Menschen sterben. Allerdings braucht Russlands Armee dringend eine Verschnaufpause auf dem Schlachtfeld. Während der Terror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung fortgesetzt wird, weil man hofft, so die ukrainische Bevölkerung zu demoralisieren, läuft aus russischer Sicht alles auf ein Einfrieren des gegenwärtigen Frontverlaufes hinaus. Der würde immerhin einen Teil der »neuen Landesteile« sowie eine Landbrücke zur bereits 2014 okkupierten Halbinsel Krim sichern. Die russische Militärführung will die »Winterruhe« nutzen, um neue Angriffspläne zu entwerfen, Truppen neu aufzustellen und Material nachzuführen. Zum ersten Jahrestag des Beginns der »Sonderoperation« zur angeblichen Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine könnte Putin dann eine neue militärische Offensive starten. Wenn Peking bis dahin kein deutliches Stoppzeichen gesetzt hat.
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