Wer liebt, zahlt drauf

Jede Gewalt begleitet von Zärtlichkeit: Der Regisseurin Andrea Breth zum 70. Geburtstag

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.
Macht große Kunst jenseits ästhetischer Trends der Gegenwart: Andrea Breth.
Macht große Kunst jenseits ästhetischer Trends der Gegenwart: Andrea Breth.

Er steht da, als hätte er alles überstanden, so leicht. Oder er liegt da, als wolle er die Erde zerdrücken, so schwer. Will man seine Müdigkeit erzählen, lächelt er sich heiter davon. Möchte man aber dieses Lächeln weitererzählen, wich es doch einem plötzlich stieren, uneinholbar traurigen Blick ins Wesenlose. Feuer brennen. Pferdekadaver glotzen.

Jens Harzer als Raskolnikow. Es ist, als spiele sich alles in einem Krater ab, in einem Bewusstseinsloch. Andrea Breth inszenierte vor Jahren Fjodor Dostojewskis »Verbrechen und Strafe« für die Salzburger Festspiele. Wir sahen einen Menschen zum Verbrecher werden, weil er eine Idee hatte, und so wurde einem beim Zuschauen die Angst vor jeder höheren Idee plausibler denn je.

Es war atemberaubend. Eine schattenschwere Messe der Verlorenheit. Wie »Don Carlos« am Wiener Burgtheater. Die Gemächer des Königspalastes? Ein Schlafsaal mit Stahlbetten. Einschnürung, Beklemmung, Isolation. Was dich ansieht, sind nicht Augen, sondern die Löcher der vielen Aktendeckel. Die Welt ein Lager, ein Container. Abstieg in unterirdische Bedeutungshorizonte. Um was zu finden? »Verborgene Laboratorien der Angst … die Synchronlippen der Toten unter der Erde, die aus uns sprechen, wenn wir von der Liebe reden« (Albert Ostermaier).

Diese Regie faucht uns nicht an. Sie platzt nicht herein. Der Arbeit sieht man an, wie sehr sich da ein Mensch die wunde Seele mit Kunst einreibt – Bitterkeit ist das Aroma jedes bedeutenden Stils. Der Dämonie-Malerin Breth ist alles Schweben immer der Sturz. Aber auch umgekehrt. Jede Gewalt wird in dieser Theaterüberwältigung begleitet von gleich großen Gesten der Zärtlichkeit. In Stücken von Schnitzler, Lessing, Shakespeare, Ibsen und Horváth: Das Schönste am Schönen ist sein Preis – wer liebt, zahlt drauf. Wenn man der Schönheit einer Inszenierung nicht mehr ansähe, welchem Leiden sie sich verdankt, dann wäre Schönheit von Kunst unbewegend.

Die Brethschen Schauspieler und Schauspielerinnen bieten keine kopierenden Nachbildungen unserer aktuellen Sinnes- und Sinnennot. Dies Werk erinnert daran, dass Kunst wie eine entschlossene Abkehr von den ästhetischen Gepflogenheiten einer Jetztzeit wirken muss und damit doch eine weit denkwürdigere Folie von Zeitgenossenschaft bedeuten kann als etwa ein Geist, der Neues immer nur mit Neuem zu vergelten sucht. Familie, Beziehung? Nur eine Stammesgeschichte der Vortäuschungen. Wut auf ein durchschnittliches Leben kann so rasend machen wie die Sehnsucht danach. Alles, was lebt, ist wie besessen von Angriff und wartet doch darauf, dass die Welt barmherzig weinen möge. Die Welt weint nicht.

Hinsehen und spüren: Das ist ein Theater, das nicht bloßstellt, nicht niedermacht, nicht zerkaspert. Kein Theater zudem, das in sozial-politischen Zurichtungen verarmt. Ganz nah und behutsam, aber nie profan nachahmend, bleibt es am Menschen. Also auch an dem, was die Nächstenliebe austeilt: Nächstenhiebe. Und natürlich gehören zu dieser Menschentreue auch Operngestalten, an den großen Häusern Europas zum Leben gerufen: Wozzeck und Lulu, Onegin und Tatjana, Blaubart und Carmen.

Andrea Breth, 1952 in Rieden (bei Füssen) geboren, Literaturwissenschaftlerin, schwört Eide auf jedes gedichtete Komma, sie ist ein Künstlerfamilienmensch. Sie hat einige Zeit die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin geleitet, noch hing der so schön anmutige und hochmütige Nachruhm Peter Steins im hässlichen Beton. Ihr gelangen große Kleist- und Tschechow-Abende, aber die klösterliche Leidenschaft fürs Theater vertrug sich damals nicht mit Filmplänen ihrer Stars. Breth-Theater: Freiheit ohne Freigang.

Hauptmanns »Ratten« an der Burg, 2018. Selten erlebter, bewegender Moment im Theater: Im tosenden Schlussapplaus, kurz vor einem Intendantenwechsel, greift die Regisseurin zum Mikrofon: »Haben Sie vielen Dank.« Abschied nur von der Burg? Oder eine größer gefasste Abkehr? Wo eine Andrea Breth Abschied nimmt, erhebt sich die Frage: Wann, wo kehrt solche Kunst wieder? Am 31. Oktober wird diese große Künstlerin 70 Jahre alt.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.