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Marktwirtschaft unter roter Fahne
Bundeskanzler Olaf Scholz besucht das aufstrebende Schwellenland Vietnam
»Sherpa« Jochen Flasbarth bereitete den Boden vor, den Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag in Vietnam betreten wird. Im September versicherte der Staatssekretär im Entwicklungshilfeministerium (BMZ) beim Besuch in Hanoi, die deutsche Entwicklungspolitik wolle ihr Engagement »für eine gerechte Energiewende« in Vietnam verstärken. Außerdem engagiert sich die Bundesregierung bei Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel, unterstützt die Berufsausbildung und hilft, Corona-Folgen zu lindern. Alles in allem sollen neu über 130 Millionen Euro nach Vietnam fließen, ein Teil als Kredit.
Für die Bundesrepublik ist eine solche Summe kein Wellenbrecher. Die Millionen sollen eine »strategische Partnerschaft« stützen, die Vietnam »schätzt«, wie Vizepremierminister Pham Binh Minh dem Unterhändler von Kanzler Scholz versicherte. Aus deutscher Sicht ist das jahrzehntelang kriegsgebeutelte Land politisch interessant als Gegenpol zum ungeliebten Nachbarn China und als Niedriglohnstandort für deutsche Firmen. Die Politiker in Hanoi dürften ähnliche Interessen verfolgen. »Vietnam ist ausgesprochen deutschfreundlich«, heißt es in der deutschen Auslandshandelskammer in Ho-Chi-Minh-Stadt.
Das hat besonders mit der DDR zu tun. Als 1976/77 der Weltmarktpreis für Kaffee aufgrund von Missernten in Brasilien stark stieg, wurden in Ostberlin die Devisen knapp. Die Regierung Erich Honeckers schloss mit dem befreundeten Vietnam ein Abkommen, das den massenhaften Anbau von Kaffeepflanzen in dem südostasiatischen Teetrinkerland beinhaltete. Für die Versorgung der DDR kamen die sozialistischen Plantagen zwar zu spät, aber heute ist Vietnam der zweitgrößte Exporteur von Kaffee weltweit.
Die deutsche Auslandshandelskammer lobt vor der Scholz-Reise »die enorme Bemühung der Regierung«, Vietnam in die globale Wirtschaftsgemeinschaft zu integrieren. Man will bis zum Jahr 2045 den Weltbank-Status eines Landes mit hohem Einkommen erreichen. Dafür müsste das jährliche Pro-Kopf-Einkommen von derzeit umgerechnet 2650 auf 12 695 US-Dollar steigen.
Seit den 80er Jahren hat die Sozialistische Republik mit ihrer energischen Erneuerungspolitik »Doi Moi« ein bemerkenswertes Wachstum angestoßen. Schon 2007 sah eine Delegation der IG Metall Küste ein »Entwicklungsland auf dem Weg zur Industrienation«. Die Marktwirtschaft mit »sozialistischer Orientierung« wurde für internationale Investoren interessant, die Exportwirtschaft des lang gestreckten Küstenstaates entwickelte sich, insbesondere Textilindustrie, Elektronik und Schiffbau.
Eine positive Folge: Lebte lange mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze, war diese Armut bis zum Corona-Einbruch fast vollständig verschwunden. Geblieben sind jedoch – wie in anderen asiatischen Schwellenländern – ein steiles Gefälle zwischen Stadt und Land, aus europäischer Sicht Defizite in der Rechtssicherheit, Mangel an Fachkräften, Lücken in der Infrastruktur sowie fehlende regionale Zulieferfirmen. Die Bundesregierung beklagt zudem, dass die geplante Privatisierung von ausgewählten Staatsbetrieben nur langsam vorankomme.
Dennoch gibt es seit einigen Jahren ein reges Interesse deutscher Unternehmen, das durch den Handelskonflikt USA–China noch verstärkt wird. »China+1« heißt nun die Strategie: Firmen, die in Asien lediglich einen Standort in China betreiben, entwickeln einen zweiten Standort. Hier ist Vietnam häufig das bevorzugte Zielland. Konzerne wie Bosch, Siemens oder Schenker sind – auch in der Berufsausbildung – im Land aktiv. Zwei Drittel der Investitionen kommen allerdings aus der Nachbarschaft, vor allem aus Südkorea, Japan, Singapur, Taiwan und Hongkong.
Mit einem Wachstum von etwa acht Prozent gehört Vietnam auch in diesem Jahr zu den Spitzenreitern der ostasiatischen Asean-Staaten, deren Gipfeltreffen an diesem Wochenende in Phnom-Penh stattfindet. Die Staatsverschuldung ist gering, die Inflation niedrig. Doch das rasante Wirtschaftswachstum geht auf Kosten der Umwelt. So dominiert in der Energieerzeugung die Kohle – noch. Auf der Glasgower Klimakonferenz 2021 hatte Regierungschef Pham Minh Chinh mit ambitionierten Zielen überrascht: Sein Land wolle bis 2050 klimaneutral sein. Klimaschutz gilt auch als Mittel, die eigene Industrie zu modernisieren und zukunftsfähig zu machen.
Umgekehrt gehört Vietnam zu den 20 am stärksten vom Klimawandel betroffenen Ländern der Erde. Dies gilt besonders für die dicht besiedelten Küstenregionen, etwa am Mekong-Delta. Das Dilemma zwischen Umweltbelastung und Wachstum dürfte die Entwicklungshilfe, wie sie Deutschland und andere westliche Staaten gewähren, kaum lösen können.
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