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Das Pflaster runtergerissen
Basketballer Niels Giffey war Kapitän von Alba Berlin, siegte nun aber im Trikot des Rivalen in der alten Heimat
Andrea Trinchieri schaute komplett entgeistert. Als er gefragt wurde, ob seine Basketballer vom FC Bayern München nach einem schwachen Saisonstart, dem nun zwei Erfolge folgten, auch in der Euroleague da angekommen seien, wo er sie sehen wolle, musste er nach Worten ringen. »Im November?«, fragte er rhetorisch zurück, also erst gut einen Monat nach Saisonstart. »Es geht jedes Jahr darum, alle Puzzleteile mit all den neuen Spielern zu einem Bild zusammenzufügen und das unabhängig davon, welche Spieler gerade auf dem Feld stehen. Jeder muss die Stärken und Schwächen des anderen kennen und darauf basierend seine Entscheidungen ändern können. Das Level erreicht man im November noch nicht. Das dauert viele Monate.« Dass er seit Sonntag noch ein neues Puzzleteil dazubekommen hat, ärgerte ihn jedoch nicht, auch wenn es die Arbeit zunächst einmal weiter verkomplizieren dürfte.
Das neue Teilchen heißt Niels Giffey, ist 31 und hat viel Erfahrung als Vereinsprofi und in der deutschen Nationalmannschaft. Die Integration des Bronzemedaillengewinners der EM im September dürfte also nicht allzu lange dauern, zumal die Stärken Giffeys wohlbekannt sind. »Niels ist ein sehr kluger Spieler. Er weiß, wie man auf zwei verschiedenen Positionen agiert, kann von außen sehr gut werfen, sich aber auch direkt unterm Korb durchsetzen. Er wird uns in dieser Saison noch sehr helfen.« Das Vertrauen in den Neuzugang zeigte Trinchieri am Donnerstagabend, indem er Giffey nach nur ein paar Trainingseinheiten mit der Mannschaft schon 16 Minuten lang spielen ließ, also fast die Hälfte der Partie.
Das Besondere an diesem Duell in der Euroleague war, dass es bei Alba Berlin stattfand, dem Verein also, bei dem Giffey groß geworden war, den er als Kapitän sogar zu zwei Meisterschaften geführt hatte. Nun schickte ihn Trinchieri knapp 90 Sekunden vor dem Ende zurück aufs Feld, um die knappe Vier-Punkte-Führung der Bayern zu verteidigen – »weil er weiß, wie man sich den entscheidenden Rebound am Ende holen kann«. Tatsächlich sollte Giffeys Abwehr gegen Berlins Topscorer Jaleen Smith mit der Schlusssirene den 79:77-Erfolg der Gäste retten, wie beim schmierig perfekten Ende einer kleinen Seifenoper.
»Das war schon ein schwieriger Tag für mich«, gab Giffey Minuten später zu Protokoll. Der Nationalspieler ist Berliner durch und durch. Seine Tante Franziska ist sogar die Regierende Bürgermeisterin. »Dass das erste Spiel nach dem Wechsel gleich gegen Alba sein sollte, kam mir wie aus einem Drehbuch vor. Aber meine Frau hatte mir vor dem Spiel geschrieben: ›Reiß’ das Pflaster einfach schnell runter!‹«
Giffey hatte Alba schon vor gut einem Jahr verlassen und eine neue Herausforderung bei Žalgiris Kaunas gesucht. Beim Spitzenklub aus Litauen war er jedoch kaum zum Einsatz gekommen und hatte sich nach einem neuen Klub umgeschaut. »Ich habe im Sommer lange gewartet, weil ich eine ganz schwierige Saison hinter mir hatte, trotzdem aber weiter im Ausland bei einem Euroleague-Team spielen wollte. Ein solches Angebot kam aber nicht. Also habe ich erst mal eine kurze, sehr schöne Zeit in Murcia verbracht, bis nun das Angebot aus München kam. Hier habe ich zweieinhalb Jahre Planungssicherheit, und die Bayern suchten auch nicht nur irgendeinen Deutschen, der mit dem richtigen Pass auf der Bank rumsitzt. Hier kann ich spielen«, erläuterte Giffey seine Beweggründe, wieder in die Bundesliga zurückzukehren.
Die Münchner, die in den vergangenen Jahren oft und erfolglos eher auf ausländische Stars gesetzt hatten, verpflichteten nun mit Isaac Bonga, Elias Harris, Niklas Wimberg und Giffey gleich vier aktuelle oder ehemalige deutsche Nationalspieler in nur wenigen Monaten. Insgesamt stehen jetzt sieben im Kader, einer mehr als in Berlin. »Das macht sie stärker in der Bundesliga und in der Euroleague«, sagte Albas Meistertrainer Israel González. »Aber auch wir haben eine gute Mannschaft und zudem die gute Angewohnheit, zum Ende der Saison immer besser zu werden«, fügte er noch eine kleine Kampfansage hinzu.
Albas Anhänger werden sie gern vernommen haben, ist der FC Bayern doch der größte Rivale. So mancher Berliner Fan würde gar vom »Erzfeind« sprechen. So werden ehemalige Albatrosse, die zu den Münchnern wechseln, gern mal tausendfach ausgepfiffen, wenn sie statt im gelben im roten Trikot in die Arena am Ostbahnhof zurückkehren. Da Giffey aber auch lange Jahre Kapitän und identitätsstiftender Spieler bei Alba war, hörte man bei der Teamvorstellung dann doch mehr Beifall als Pfiffe. »Es war schön, dass ich gut empfangen wurde. Die paar Pfiffe kann ich gut verstehen. Als ich kleiner war, war ich selbst richtiger Alba-Fan. Damit habe ich also gerechnet. Trotzdem bin ich froh, dass ich dieses erste Spiel jetzt hinter mir habe.«
An die Farbe seines neuen Trikots müsse er sich aber auch selbst erst noch gewöhnen – offenbar ebenso wie andere Familienmitglieder. So war Giffeys Mutter zwar zum Spiel gekommen, nach dem sie ihren Sohn auch innig umarmte, das allerdings in einem gelben Oberteil. »Das ist mir gleich aufgefallen. Sie hat auf jeden Fall Berliner Flagge gezeigt, aber das ist auch gut so«, sagte der Neu-Münchner.
Für seinen ehemaligen Klub war es auch nicht leichter, Giffey auf der anderen Seite zu sehen. Als »total komisch« bezeichnete Albas Center Johannes Thiemann den Anblick, zumal er mit dem Flügelspieler im Sommer noch monatelang gemeinsam in der Nationalmannschaft unterwegs gewesen war. Auch Berlins Trainer González fand es »etwas schwierig, weil Niels unser Kapitän war. Aber er ist ein so netter Kerl, wir lieben ihn weiterhin. Wir wünschen ihm alles Gute im neuen Team – nur bitte nicht weiter gegen Alba.«
War Giffey sein Eingreifen am Ende der Partie vielleicht sogar etwas unangenehm, hätte er lieber auf der Bank gesessen? »Quatsch! Letztlich will man doch immer spielen«, antwortete er. »Aber Berlin bleibt natürlich meine Heimat. Da ist die Trikotfarbe egal: rot, gelb, schwarz oder grün.«
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