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»Wir haben gelernt, immer zu kämpfen«

Die ehemalige Schiedsrichterin Marzieh Nasiri über den Kopftuchzwang, die Brutalität des Regimes und die Rolle des Frauenfußballs im Iran

  • Olaf Neumann
  • Lesedauer: 7 Min.
Früher war Marzieh Nasiri Schiedsrichterin im Iran, heute promoviert sie in Düsseldorf über Immanuel Kant.
Früher war Marzieh Nasiri Schiedsrichterin im Iran, heute promoviert sie in Düsseldorf über Immanuel Kant.

Mutige Iranerinnen legen derzeit ihre Kopftücher ab und schneiden sich die Haare kurz. So protestieren sie gegen den Kopftuch- und Hijab-Zwang. Glauben die Menschen im Iran, dass jetzt die letzte Chance ist, das Regime zu verdrängen?

Interview

Marzieh Nasiri absolvierte im Iran eine Ausbildung zur Fußball-Schiedsrichterin. Die 39-Jährige arbeitete im iranischen Fußballverband und als Fußballreporterin. In ihrer Geburtsstadt Teheran begann sie ein Studium der Philosophie. Vor sechs Jahren zog sie nach Deutschland, um an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf über Immanuel Kant zu promovieren.

Die Menschen im Iran kämpfen seit Jahren für die Freiheit, und insbesondere die Kampagnen gegen den Hijab-Zwang wie »Weißer Mittwoch«, »Unsere Kamera, unsere Waffe« oder »Die Mädchen der Revolution Street« laufen im Iran seit Jahren. Es gibt eine lange Liste mit Namen von Frauen, die wegen ihrer Beteiligung an diesen Kampagnen im Gefängnis sitzen. Zwei dieser Mädchen kamen sogar zusammen mit ihrer Mutter, die sie begleitete, in Haft. Aber dieses Mal hat die Welt unsere Stimme gehört, und deshalb denken die Menschen im Iran, dass dies ihre letzte Chance sein könnte, das Regime zu stürzen. Weil die Welt zuschaut und die Mullahs nicht wie in der Vergangenheit Tausende von Menschen töten können.

Sind Sie optimistisch, dass die Proteste im Iran zum Sturz oder Zerfall des Regimes führen können?

Ja, ich bin sehr optimistisch, dass es zum Sturz des islamischen Regimes kommen wird. Vielleicht nicht sofort, aber es wird definitiv passieren. Jetzt hat das Regime unter anderem Fußballspieler, Sänger*innen, Schauspieler*innen und Aktivist*innen verhaftet, um die Menschen zu verängstigen, aber die finden jeden Tag eine neue Art zu kämpfen. Das Regime verschont niemanden: von meiner 70-jährigen Mutter bis zu meiner 20-jährigen Nichte, die auf der Straße geschlagen wurden – aber auch sie weichen nicht und kämpfen weiter.

Von den Protesten 2019/20 ist bekannt, dass das Regime nicht davor zurückschreckt, auf Kinder und Jugendliche zu schießen. Wie groß ist Ihre Angst, dass sich das wiederholen könnte?

Das Regime zögerte nie, Kinder zu töten. Es ist jetzt wieder dasselbe: Sie schießen unkontrolliert auf Demonstrierende, und es ist ihnen egal, wer dabei getötet wird. Sie haben auch Tränengas im Auto meiner Nichte abgefeuert, ihr vierjähriger Sohn hatte deshalb Atemprobleme und war mehrere Tage im Krankenhaus. Dass die Zahl der Todesopfer noch nicht Tausende erreicht hat, liegt nicht an der Toleranz des Regimes, sondern daran, dass die Welt jetzt zuschaut und die Stimme des iranischen Volkes gehört wird.

Wurden Sie im Iran früher selbst schon von der Sittenpolizei festgenommen?

Ja, ich wurde zweimal verhaftet. Einmal, weil sie meinten, meine Kleidung sei nicht islamisch, und einmal, weil sie ein junges Mädchen schlugen und ich dagegen protestierte.

Für manche muslimischen Frauen in Deutschland ist das Kopftuch Ausdruck ihrer Freiheit. Für andere ist es ein Ausdruck von Tabuisierung der Sexualität, von Geschlechtertrennung, von Machtdemonstration der patriarchalischen Strukturen. Wie sehen Sie das?

Ich konnte nie verstehen, wie der Hijab ein Zeichen von Freiheit sein kann. In islamischen Familien und unter islamischen Regierungen müssen Mädchen ab neun Jahren ein Kopftuch tragen. Was hat Pflicht mit Recht und Freiheit zu tun? Ein Kopftuch zu tragen bedeutet im Grunde, dass sie nicht das Recht haben, ihre eigene Kleidung zu wählen, weil der Islam sie bereits für sie ausgewählt hat. Wenn die Seele eines kleinen Mädchens ab dem neunten Lebensjahr Angst vor Sünde und Hölle hat und es deshalb einen Hijab auf dem Kopf trägt, weiß ich nicht, wie das ein Zeichen für die Entscheidungsfreiheit von Frauen sein kann.

Sie promovieren an der Universität Düsseldorf im Fach Philosophie. Welchen Stellenwert haben Kunst, Kultur und Philosophie im Alltag der Iraner?

Viele Iraner haben Interesse an Philosophie. Wenn man dort nach dem Studienfach gefragt wird und mit »Philosophie« antwortet, wissen die Leute genau, was das ist, und verwechseln es nicht mit Psychologie oder Soziologie. Wir beschäftigen uns seit Jahrhunderten damit; viele wichtige Quellen der Philosophie haben Bezug zu iranischen Denkern wie den Philosophen Avicenna und Alfarabi. Die Anliegen von Kunst, Kultur und Philosophie sind im täglichen Leben der iranischen Bevölkerung präsent, und natürlich auch die Anliegen der Politik.

Wird die Philosophie im Iran zensiert?

Philosophie wird wie alles andere im Iran vom Regime zensiert. Zum Beispiel durften wir während unseres Studiums nicht alle Quellen lesen. An der Universität hatten wir nur Zugang zu zensierten Quellen, aber für das persönliche Interesse haben wir uns Quellen vom Schwarzmarkt besorgt. Es gibt Buchhandlungen, die alte und unzensierte Bücher als Kopien oder im Original verkaufen, die vor der islamischen Revolution veröffentlicht wurden. Philosophie studieren macht zwar Spaß, birgt aber im Iran manche Schwierigkeiten.

Sind Sie deshalb nach Deutschland gegangen?

Ja. Ich wollte eigentlich im Iran promovieren und in meiner Heimat in diesem Bereich arbeiten, aber leider boten sich mir nicht viele Möglichkeiten. Deshalb habe ich mein Studium in Deutschland fortgesetzt.

Sie haben im Iran als Frauenfußball-Schiedsrichterin gearbeitet. Wie kam es dazu?

Im Jahr 2016 erhielt ich ein Studienvisum für Deutschland. Davor habe ich in Teheran acht Jahre lang als Schiedsrichterin beim Fußballverband gearbeitet. Als Teenagerin spielte ich zusammen mit anderen Mädchen Fußball in einem Verein in Teheran. Wir waren nach der Islamischen Revolution die einzige Frauenfußballmannschaft im Iran. Später wurden weitere Frauenteams gebildet sowie die Liga und die Nationalmahnschaft. Ich nahm an Fußballschiedsrichter-Kursen teil, bekam ein Schiedsrichterzertifikat und wurde beim iranischen Fußballverband angestellt. Vor 15 Jahren war ich als Vertreterin des Fußballverbands mit der Frauen-Jugend-Nationalmannschaft beim Asienturnier in Bangladesch, und wir haben dort die Meisterschaft gewonnen.

Frauenfußball – ein Zeichen von Freiheit?

Die Regierung spielt jedes Mal Theater. Sie lässt Frauen Fußball spielen, um der Welt zu sagen, dass Frauen im Iran frei sind. In Wirklichkeit tun sie dies, um ein Fußballverbot zu vermeiden. Frauen haben weder auf dem Fußballplatz noch am Arbeitsplatz oder auf der Straße die Freiheit, ihre eigene Kleidung zu wählen. Von daher ist ihr Fußballspielen kein Zeichen der Freiheit, sondern eine politische Täuschung des Regimes. Letztes Jahr wurde das Match Iran gegen Syrien im Azadi-Stadion im Iran ausgetragen. Syrische Frauen betraten das Stadion und iranische Frauen mussten vor der Tür bleiben. Der Name des Stadions ist aber Azadi – das bedeutet Freiheit!

Und vorher gab es im Iran keinen Frauenfußball?

Den gab es in der Zeit des Schahs und vor dem islamischen Regime. Als meine Mutter jung war, konnte sie als Frau ins Stadion gehen, aber nach der islamischen Revolution nicht mehr. Jetzt darf sie sich Spiele von Männern nicht mehr im Stadion ansehen. Männer dürfen Frauenspiele nicht sehen, Frauen dürfen Männerspiele nicht sehen. Dies ist ein völlig politischer Fußball, der gegen die Fifa-Regeln verstößt Auseinandersetzungen vermeidet.

Warum wollten Sie unbedingt Schiedsrichterin werden?

Wir iranischen Frauen haben gelernt, immer zu kämpfen. Wenn die Regierung sagt, wir dürfen nicht Fußball spielen, versuchen wir es trotzdem irgendwie. Ich spielte Fußball, ich wurde Schiedsrichterin, ich habe im Fußballverband gearbeitet und war sogar Fußballreporterin. Haben Sie von dem »blauen Mädchen« gehört? Sie betrat das Stadion, indem sie ihr Gesicht so veränderte, dass sie wie ein Mann aussah. Leider wurde sie verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Schließlich zündete sie sich vor Gericht an und starb. Wie andere Iranerinnen wollte sie nur ihre Lieblingsfußballmannschaft im Stadion spielen sehen. Viele Mädchen, die mit getarntem Gesicht ein Stadion betraten und als Frauen identifiziert wurden, kamen vor Gericht und mussten sogar aus dem Iran fliehen.

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